Damit die Chemie stimmt
Die neue Bewertungshilfe „ChemSelect“ aus dem Umweltbundesamt unterstützt Unternehmen darin, recht schnell und einfach zu bewerten, ob Chemikalien nachhaltig sind. ChemSelect berücksichtigt neben gefährlichen Eigenschaften von Stoffen unter anderen auch, ob eine Chemikalie kreislauffähig ist sowie das Risiko, dass Mensch oder Umwelt ihr ausgesetzt werden.

Eine Abfüllanlage für chemische Flüssigkeiten.
Foto: PantherMedia/Harald Richter
Smartphones, Kraftwerksturbinen oder Kunststofffolien – Chemikalien ermöglichen, moderne Werkstoffe und Produkte mit hervorragenden technischen Eigenschaften herzustellen. Doch Chemikalien können auch – wie beispielsweise die Ewigkeitschemikalien, die per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (Pfas) – schädliche Auswirkungen haben, was wiederum deren Verwendbarkeit einschränkt. Dabei können Unternehmen oft zwischen Chemikalien wählen. Es gibt beispielsweise mehrere Weichmacher für duroplastische Kunststoffe oder einige Tenside für aggressive Elektrolyte. Diese Stoffe können sich nicht nur in ihrer Performance und ihrem Preis, sondern auch in ihren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt unterscheiden.
Doch wie finden Unternehmen möglichst schnell und einfach heraus, welche Chemikalien nachhaltig beziehungsweise nachhaltiger sind, also einen Nutzen erbringen, Mensch und Umwelt gar nicht oder deutlich weniger zu schaden? Hier hilft ein neues kostenloses Bewertungsinstrument des Umweltbundesamts (UBA): ChemSelect. Es ist eine Weiterentwicklung des UBA-Leitfadens „Nachhaltige Chemikalien“ aus dem Jahr 2016. Der Leitfaden stellt eine gute Einführung in das Thema der nachhaltigen Chemikalien dar und kann kostenfrei auf der UBA-Internetseite heruntergeladen werden.
Mit dem neuen Tool ChemSelect lässt sich online beispielsweise prüfen, ob Chemikalien auf Listen problematischer Stoffe genannt werden, ob es Hinweise gibt, dass mit ihren Rohstoffen Umweltprobleme verbunden sind und ob es voraussichtlich leicht sein wird, Ersatzstoffe zu finden. ChemSelect hilft also, gezielte bessere Chemikalien auszuwählen. Besser bedeutet in diesem Zusammenhang nachhaltiger.
Bessere Chemikalien finden
Nachhaltigere Chemikalien wirken dabei am besten weder jetzt noch in Zukunft schädlich auf Gesundheit und Umwelt. Sie tragen zudem nicht oder kaum zur Verknappung natürlicher Ressourcen bei. Ihr CO2-Fußabdruck ist niedrig. Mit ihrer Herstellung sind keine ungerechten oder unwürdigen sozialen Verhältnisse verbunden. Sie zeigen sehr gute technische Performances und rechnen sich auch ökonomisch.
Es sind also eine ganze Menge an Eigenschaften, die für die Auszeichnung „nachhaltiger“ zu berücksichtigen sind. Dies erklärt, warum die Bewertung und der Vergleich von Chemikalien bezogen auf ihre Nachhaltigkeit leicht unübersichtlich werden können. Eine größere Zahl an Kriterien ist anzuwenden. Oft ist zudem unklar, ob es die erforderlichen Daten überhaupt gibt oder wo sie zu finden sind.
Viele Anwenderinnen und Anwender von Chemikalien und Gemischen, also Mischungen von Chemikalien, können keine aufwendigen Datenrecherchen oder eigene Ökobilanzen durchführen. Hier soll ChemSelect helfen. Mit ChemSelect können alle die Nachhaltigkeit einzelner Stoffe oder von Gemischen bewerten.
Einfach, rasch und online
ChemSelect ist keine Datenbank. Für die Bewertung von Stoffen und Gemischen müssen Nutzerinnen und Nutzer selber Informationen eingeben. Allerdings sind für mehrere tausend Stoffe Informationen zu ausgewählten Schadwirkungen hinterlegt. Der Großteil dieser Informationen stammt aus der „harmonisierten Einstufung“ von Stoffen durch Chemikalienbehörden der EU-Mitgliedsstaaten. Dies ist in der Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen aus dem Jahr 2008 geregelt. Sie ist als CLP-Verordnung bekannt – die Abkürzung steht für Classification, Labelling and Packaging.
Ebenfalls sind eine Reihe bekannter problematischer Stoffe bei ChemSelect hinterlegt, die die EU oder die Vereinten Nationen auf speziellen Listen führen (siehe unten: ChemSelect: Die neun Listen). All diese Informationen erlauben es Nutzerinnen und Nutzern, rasch erste Bewertungsergebnisse erzielen, selbst wenn sie nur wenig über ihre Stoffe und Gemische wissen.
Nachhaltige Substanzen für Unternehmen
Die Bewertungshilfe ChemSelect kann vor allem drei Gruppen von Unternehmen helfen, „gute“ beziehungsweise „bessere“ Chemikalien zu finden:
- für Unternehmen, die Gemische aus Chemikalien herstellen;
- für Unternehmen, die Chemikalien oder Gemische nutzen, um daraus Erzeugnisse herstellen und
- für Unternehmen, die Dienstleistungen anbieten, bei denen Chemikalien oder Gemische angewendet werden.
ChemSelect unterstützt diese Unternehmen bei drei Aufgabenstellungen:
- beim Bewerten eingesetzter Substanzen oder Gemische,
- beim Bewerten möglicher Ersatzstoffe und
- bei der Kommunikation mit Kunden beispielsweise über nachhaltigere Alternativen.
Neun Kriterien für Nachhaltigkeit
Für die Nachhaltigkeitsbewertung von Chemikalien und Gemischen werden in ChemSelect neun Kriterien berücksichtigt. Die ersten vier Kriterien beziehen sich auf gefährliche Eigenschaften:
- auf physikalisch-chemische Gefahren,
- auf Gefahren für die menschliche Gesundheit und
- auf Gefahren für die Umwelt und zudem
- wird automatisch überprüft, ob ein Stoff auf einer von mehreren Listen problematischer Stoffe steht.
Mit dem fünften Kriterium „Expositionspotenzial“ wird abgeschätzt, ob der Kontakt der Chemikalien mit Arbeiterinnen und Arbeitern, Verbraucherinnen und Verbrauchern oder der Umwelt als besonders hoch oder eher niedrig einzuschätzen ist.
Drei weiteren Kriterien beziehen sich auf den Lebensweg eines Stoffes:
- Im sechsten Kriterium werden Auswirkungen auf das Klima und die Ozonschicht bewertet,
- mit dem siebten der Ressourcenverbrauch abgeschätzt und
- mit dem achten wird auf die Frage eingegangen, ob ein Stoff im Kreislauf geführt werden kann.
Mit dem letzten, dem neunten, Kriterium kann eingeschätzt werden, ob Lieferanten ihrer Verantwortung gegenüber ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, der Nachbarschaft und der Umwelt gegenüber gerecht werden.
Die Ampelfarben …
Jedes Kriterium wird einzeln bewertet. Das Bewertungsergebnis wird in Ampelfarben angezeigt. Gibt es keine Bedenken, wird dem Kriterium die Farbe „grün“ und die Zahl „1“ zugeordnet; bei leichten Bedenken „gelb“ und die Zahl „3“, bei großen Bedenken die Farbe „rot“, quasi für nicht nachhaltig, und die Zahl „5“.

Drei der Farben zur Chemikalien-Bewertung entsprechen bei ChemSelect den bekannten Ampelfarben. Grafik: UBA
Viele Kriterien gehen auf mehrere Stoffeigenschaften ein. Beim Kriterium Gefährlichkeit für den Menschen gibt es beispielsweise vier Unterkriterien. Jedes dieser Unterkriterium – wie hier krebserzeugende, erbgut- und fortpflanzungsschädigende Eigenschaften oder Schädigungen bei Kontakt mit Haut und Augen – wird einzeln bewertet und das Gesamtergebnis für die Gefährlichkeit ergibt sich dann aus den Ergebnissen, die bei den Unterkriterien erzielt wurden.
… ergänzt um rosa, grau und blau
Drei weitere Farben helfen beim Bewerten von Chemikalien:
- „Rosa“ und die Zahl „4“, fehlen bei einem Kriterium Daten und eine Bewertung ist daher nicht möglich;
- „Grau“, wenn ein Unternehmen ein Kriterium noch nicht bearbeitet hat;
- „Blau“, wenn ein Kriterium für die Bewertung einer Chemikalie nicht relevant ist (zum Beispiel die Abbaubarkeit, die bei anorganischen Stoffen wie Salzen nicht wichtig ist).
Kriterien, die mit grau oder blau angezeigt werden, gehen nicht in die Bewertung ein.
In Einzelfällen kann deutlich werden, dass es sinnvoll ist, bei einem Kriterium oder mehreren Kriterien eine vertiefte Bewertung mit anderen Instrumenten anzuschließen. Ein Beispiel: Beim Kriterium „Treibhauspotenzial“ ist es nicht nur wichtig zu wissen, in welchem Umfang ein Stoff klimawirksam werden kann. Zusätzlich sollte bekannt sein, welche Menge des Stoffes für eine bestimmte Verwendung oder ein bestimmtes Produkt eingesetzt wird. Dies ist dann Gegenstand einer erweiterten Bewertung.
Schnell erste Ergebnisse
Je mehr Informationen zu einem Stoff zur Verfügung stehen, desto umfassender und sicherer sind die Bewertungsergebnisse. Aber ChemSelect braucht zu Beginn nur eine einzige zentrale Information: die CAS-Nummer des Stoffes. Die Abkürzung CAS steht für Chemical Abstracts Service. Sie ist ein internationaler Bezeichnungsstandard für chemische Stoffe. Die CAS-Nummer ist mit der Personalausweisnummer vergleichbar und für fast alle Stoffe leicht recherchierbar.
Die Eingabe der CAS-Nummer in ChemSelect beantwortet gleich zwei Fragen:
- Steht der Stoff auf einer Problemstoffliste wie der Kandidatenliste der EU-Chemikalienverordnung Reach? Dann ist es allein schon aufgrund dieser Tatsache sinnvoll, nach einem weniger problematischen Stoff zu suchen.
- Hat der Stoff gemäß den Bewertungen der harmonisieren Einstufungen europäischen Behörden einige ausgewählte gefährliche Eigenschaften? Diese werden nicht nur in Form von kurzen Gefahrenhinweisen, den „H-Sätzen“ (Hazard Statements), angegeben sondern ChemSelect zeigt auch mit den Farben Gelb oder Rot an, wie gravierend diese Eigenschaften sind.
Das Nachhaltigkeitsprofil
Aus den Ergebnissen zu den einzelnen Kriterien erstellt die Bewertungshilfe ChemSelect das Nachhaltigkeitsprofil – sowohl für einzelne Stoffe als auch für Gemische aus mehreren Stoffen.
Dieses Profil zeigt auf einen Blick, wie es in den neun bewerteten Feldern um die Nachhaltigkeit des Kandidaten bestellt ist. Ziel sind Chemikalien, die in möglichst vielen Feldern gute Ergebnisse erzielen, bei ChemSelect also ein „Grün“ bekommen.

Das Nachhaltigkeitsprofil der Substanz Trimethoxyvinylsilan zeigt übersichtlich, dass die Substanz trotz einiger gefährlicher Eigenschaften nicht substituiert werden muss. Grafik: UBA
Das Nachhaltigkeitsprofil von ChemSelect zeigt sehr viele Einzelergebnisse. Auf Wunsch werden diese Profile quasi per Knopfdruck in knapper Form zusammengefasst.
Bei dieser Zusammenfassung werden jedoch die physikalisch-chemischen Eigenschaften nicht in der Bewertung berücksichtigt, da entsprechende Risiken am Arbeitsplatz als „beherrschbar“ gewertet werden. Die Zusammenfassung zeigt auf einen Blick die Antworten auf drei wichtige Fragen:
- Gibt es Hinweise auf besonders problematische Eigenschaften für Mensch oder Umwelt?
- Ergeben sich aus den Stoffeigenschaften und dem Expositionspotenzial Hinweise auf Risiken für Mensch oder Umwelt?
- Gibt es Hinweise auf kritische Eigenschaften bezogen auf den Lebensweg des Stoffes oder Gemisches?
Gemische bewerten
In den meisten Fällen müssen Unternehmen nicht einzelne Stoffe, sondern Gemische bewerten. Auch hier hilft das Bewertungstool ChemSelect. Hierzu braucht es zweierlei:
- die Eingabe der Zusammensetzung des Gemisches und
- die Bewertung der einzelnen Stoffe, die im Gemisch enthalten sind.
Auf Grundlage der Bewertungen der Einzelstoffe und der Einstufung des Gemisches wird dann in ChemSelect die Nachhaltigkeit des Gemisches bewertet – und das mit denselben Farben, die für einen Einzelstoff verwendet werden.
Vergleich auf Knopfdruck
Oft stehen mehrere Stoffe oder Gemische für eine Anwendung zur Verfügung. Welcher Stoff oder welches Gemisch ist nachhaltiger? Die Bewertungshilfe ChemSelect vereinfacht diesen Vergleich, indem sie Nachhaltigkeitsprofile von bis zu fünf Chemikalien nebeneinander anzeigen kann.
Zudem berechnet ChemSelect, wie jedes Produkt bei jedem der Kriterien abschneidet und vergibt einen entsprechenden Rang. Das beste Produkt bekommt Rang 1, das nächst bessere Rang 2 und so weiter. Das Produkt, das für ein Kriterium am schlechtesten abschneidet, bekommt den schlechtesten Rang.
Ersatzstoffe: ein langer Weg?
Bei Stoffen und Gemischen mit kritischen Eigenschaften sollten Nutzerinnen und Nutzer prüfen, ob es bessere Ersatzstoffe gibt. Zuerst müssen sie Alternativen selbst recherchieren. Dann ermöglicht ChemSelect im Bereich Substitutionspotenzial eine erste Einschätzung zum Aufwand einer Substitution.
Die dieser Bewertung zugrunde liegenden Annahmen sind, dass es für Produkte, die aus vielen oder sehr vielen Stoffen bestehen, schwieriger ist, einzelne Stoffe zu ersetzen. Das gleiche wird für Fälle angenommen, bei denen die technischen Anforderungen an das Produkt sehr hoch sind. Über manche Stoffe mit problematischen Eigenschaften wird schon länger kritisch diskutiert. Hier wird eine erhöhte Wahrscheinlichkeit erwartet, dass Ersatzstoffe angeboten werden. Das gleiche gilt für Stoffe mit gesetzlichen Beschränkungen oder Verboten. In ChemSelect gibt es daher auch Fragen, die sich auf diese Gesichtspunkte beziehen.
ChemSelect international
ChemSelect steht inzwischen in zehn Sprachen zur Verfügung. Zur Anwendung gehören auch Tipps und Tricks, beispielhaft ausgearbeitete Bewertungen von Stoffen und Gemischen sowie Erklärvideos. Zudem werden Musterdaten bereitgestellt, die in einen Account importiert werden und als Beispiele für die Bewertung einzelner Stoffe und Gemische angesehen werden können. Mit dieser Unterstützung soll es Unternehmen leichter gemacht werden, gute beziehungsweise bessere Chemikalien zu finden und einzusetzen. Damit die Chemie auf Dauer stimmt.
https://chemselect.uba.de
Prof. Dr. Dirk Bunke leitet das Themenfeld „Nachhaltige Chemie“ beim Öko-Institut
Antonia Reihlen bearbeitet beim Ökopol Institut für Ökologie und Politik das Thema nachhaltige Chemikalien und Chemikalienregulierung
Dr. Christoper Blum ist im Umweltbundesamt für das Thema Nachhaltige Chemie zuständig
Dr. Ralph H. Ahrens ist Redakteur bei der VDI energie + umwelt