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Schweiz 24.07.2023, 10:00 Uhr

Energieautarkie für den Neuhof

Der Neuhof, eine Bildungseinrichtung im schweizerischen Birr, baut auf einen erneuerbaren Strom- und Wärmemix plus Speicher und Gas-BHKW. Möglich machte dies eine Softwareplattform.

Der Neuhof in Birr im schweizerischen Kanton Aargau setzt auf eine kostengünstige und erneuerbare Energieversorgung. Foto: Neuhof

Der Neuhof in Birr im schweizerischen Kanton Aargau setzt auf eine kostengünstige und erneuerbare Energieversorgung.

Foto: Neuhof

Eine nachhaltige und bezahlbare Energieversorgung ist eines der wichtigsten Themen der Zeit. Sowohl die Transformation zur Klimaneutralität als auch die Herausforderungen einer bezahlbaren Umstellung erfordern ein Umdenken und eine intelligente Planung. Insbesondere ländliche Gebiete stehen vor der Aufgabe, die Energieversorgung neu aufzustellen. Es braucht kluge Lösungen, um die Kosten zur Bereitstellung von Energieinfrastruktur zu reduzieren und die im Vergleich zu städtischen Arealen vorhandenen Ressourcen zu nutzen.

Ein Beispiel für einen solchen Weg bietet der Neuhof, eine Bildungseinrichtung in Birr, Schweiz. Neuhof hat sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen in ihrer sozialen und beruflichen Entwicklung zu unterstützen. Der Ort ist wie ein kleines Dorf aufgebaut, mit verschiedenen Einrichtungen für Gartenbau, Gastronomie, Landwirtschaft, Malerei, Metallverarbeitung, Schreinerei sowie Wohn- und Schulungsräumen. Die Herausforderungen und Möglichkeiten in Bezug auf Energie am Neuhof-Campus können daher als repräsentativ für viele ländliche Dörfer und Regionen in der Schweiz angesehen werden.

Der Neuhof möchte nicht nur durch die eigene Arbeit hervorstechen, sondern auch durch ein besonders zukunftsorientiertes Wirtschaften. Deswegen besteht das ehrgeizige Ziel darin, vollständig energieautark zu werden und alle benötigte Energie aus erneuerbaren Ressourcen vor Ort oder in der unmittelbaren Umgebung zu erzeugen. Dies erfordert innovative Lösungen und die Nutzung der natürlichen Ressourcen, die der ländliche Charakter des Standorts bietet.

Energieplanung neu denken

Klar ist: der Neuhof kann diesen Weg nicht alleine beschreiten, sondern braucht einen erfahrenen Partner an der Seite. Deswegen kooperiert der Neuhof mit Sympheny, einem Software-Unternehmen und Spin-off des Schweizer Forschungsinstituts Empa. Sympheny nutzt innovative Algorithmen, um optimierte Energiekonzepte für Standorte zu entwickeln. Gemeinsam haben Neuhof und Sympheny ein Konzept erarbeitet, das auf einer sorgfältigen Analyse der Energieanforderungen und vorhandenen erneuerbaren Energiequellen beruht.

Früher war die Energieplanung durch eine vergleichsweise geringe Komplexität geprägt. Die Energieerzeugung erfolgte zentralisiert durch große Kraftwerke, während der Energieverbrauch relativ vorhersehbar war. Diese einfache Struktur ermöglichte eine effiziente Planung der Energieversorgung. Der verstärkte Einsatz von erneuerbaren Energien wie Solaranlagen und neuen Verbrauchern wie Wärmepumpen sowie die zunehmende Elektromobilität haben zu einer Vielzahl von neuen Herausforderungen und Möglichkeiten geführt. Die alten Modelle der Energieplanung sind nicht mehr ausreichend, um den sich wandelnden Anforderungen gerecht zu werden. Eine moderne Energieplanung muss die komplexe Interaktion zwischen verschiedenen Energiequellen, Verbrauchern und Speichersystemen berücksichtigen und innovative Lösungen für eine nachhaltige und effiziente Energieversorgung finden.

An dieser Stelle setzt Symphenys Softwarelösung an. Durch den Einsatz leistungsstarker Algorithmen ermöglicht die Software die Simulation Tausender möglicher Energieversorgungskonzepte. Dies erlaubt eine umfassende Bewertung verschiedener Technologien, Systemkonfigurationen und deren Auswirkungen auf Kosten, Effizienz und Nachhaltigkeit. Die Vorteile der Plattform sind klar: Planerinnen und Planer erhalten eine fundierte Entscheidungsgrundlage, indem Transparenz, Effizienz und Planungssicherheit gefördert werden. Planungsprozesse werden beschleunigt und ermöglichen so die erfolgreiche Umsetzung von nachhaltigen Energiekonzepten.

Die Ausgangslage für den Neuhof

Aktuell umfasst der derzeitige Energieverbrauch des Neuhof-Campus hauptsächlich Heizenergie, elektrische Geräte und Fahrzeuge, unter anderem Traktoren für landwirtschaftliche Zwecke. Die Heizenergie wird zu einem großen Teil mit einem Holzkessel erzeugt und an die Gebäude und Einrichtungen verteilt. Ein Gasboiler kommt als Reserve zum Einsatz. Einige Gebäude auf dem Gelände wurden in den letzten Jahren energetisch saniert, und weitere Renovierungen sind in den kommenden Jahren vorgesehen. Aufgrund historischer Erhaltungsgründe ist jedoch eine umfassende Renovierung aller Gebäude nicht möglich. Darüber hinaus ist geplant, in den kommenden Jahren eine neue Schulungsanlage auf dem Campus zu errichten.

Der Neuhof und Sympheny arbeiteten zusammen, um ein energieautarkes Konzept für den Campus zu entwickeln. Im ersten Schritt wurden der lokale Energiebedarf und die verfügbaren erneuerbaren Energiequellen quantifiziert. Unter Verwendung einer Kombination aus Messungen und Energiesimulationen berechnete das Sympheny-Team stündlich aufgelöste Profildaten für Raumheizung, Warmwasser und Strombedarf für jedes Gebäude auf dem Gelände sowie den Energiebedarf für Fahrzeuge und Traktoren. Dabei wurden mögliche zukünftige Gebäudesanierungen sowie geplante Neubauten berücksichtigt. Basierend auf früheren Bewertungen des geothermischen Potenzials, der Windgeschwindigkeiten und der Wasserströme wurden die vor Ort verfügbaren erneuerbaren Energiequellen bewertet und quantifiziert. Dazu gehörten Solarenergie, Geothermie, Windenergie, Wasserkraft, landwirtschaftliche Abfälle, Gülle und organische Abfälle aus der Umgebung.

Energieerzeugung und -speicherung – doch wie?

Nach der Quantifizierung des Energiebedarfs vor Ort und der erneuerbaren Energiequellen wurden verschiedene Optionen für die Energieerzeugung und -speicherung identifiziert und hinsichtlich ihrer technischen und wirtschaftlichen Parameter spezifiziert.

Die Bandbreite an verfügbaren Technologien ist groß. Dazu gehören Erzeugungstechnologien wie Photovoltaik (PV) für Dächer und landwirtschaftliche Flächen (Agri-PV), geothermische Anlagen und eine Biogasanlage. Damit das Ziel der Energieautarkie erreicht werden kann, muss die erzeugte Energie auch gespeichert werden, um Zeiten ohne ausreichende Erneuerbare-Produktion abzudecken.

Deswegen wurden mögliche Lösungen zur kurzfristigen und saisonalen Speicherung von elektrischer, thermischer und chemischer Energie wie Batterien, ein Eisspeicher, ein Gruben-Warmwasserspeicher, ein Wasserstoffspeicher, und ein Methanspeicher berücksichtigt. Außerdem wurden Technologien inkludiert, die eine Umwandlung der Energieformen zulassen, wie zum Beispiel ein Elektrolyseur, eine Brennstoffzelle, ein Methanisierer und ein Gas-Blockheizkraftwerk (BHKW). Die Aufzählung macht klar: es gibt mittlerweile zahllose Möglichkeiten, ein nachhaltiges Energiesystem intelligent zu planen. Die Vielzahl der Technologiekandidaten unterstreicht auch die Komplexität im Planungsprozess. Daher ist eine Softwarelösung hilfreich, um die Planerinnen und Planer zu unterstützen und die besten Lösungen zu identifizieren.

Kostengünstige und technisch machbare Energieautarkie

Mithilfe der Plattform wurden viele verschiedene mögliche Energieversorgungskonzepte für den Neuhof simuliert, um eine kostenoptimale und technisch umsetzbare Lösung zur Erreichung der Energieautarkie zu finden. Es wurden mehrere Iterationen der Analyse durchgeführt, wobei jeder Schritt zur weiteren Verfeinerung der Problemstellung und als Datenbasis der Analyse genutzt wurde.

Das identifizierte Konzept weist eine relativ geringe Systemkomplexität und vergleichsweise niedrige Lebenszykluskosten auf. Es umfasst eine große Agri-PV-Anlage in Kombination mit einem großen Methangasbehälter für die saisonale Energiespeicherung, ein Gas-BHKW, eine Luft-Wärmepumpe und mehrere kleinere Speichersysteme für die kurzfristige Energiespeicherung. Die überschüssige erneuerbare Energie der Sommermonate wird in Wasserstoff umgewandelt, vorübergehend in Behältern auf dem Gelände gelagert und anschließend an Dritte verkauft. Das entwickelte Energiekonzept nutzt die Stärken des Standorts, um Energieautarkie zu erreichen, indem die großflächigen landwirtschaftlichen Flächen und die verfügbaren organischen Abfälle genutzt werden. Das Konzept wird in den nächsten Jahren schrittweise weiterentwickelt und umgesetzt. Nach Abschluss des Projekts können im Vergleich zum heutigen Energiemix 136 t CO2 pro Jahr gespart werden.

Neuhof als Blaupause für andere

Das Konzept für den Neuhof ist auch auf andere landwirtschaftliche Standorte und Regionen übertragbar. Das entwickelte Energiekonzept zeigt, dass ländliche Gebiete und landwirtschaftliche Flächen eine wichtige Rolle bei der Umstellung auf eine nachhaltigere Energieversorgung spielen können. Das Konzept kann als Vorbild für andere ähnliche Standorte und Regionen dienen, die ihre einzigartigen Stärken nutzen können, um energieautark zu werden und aktiv zur Energiewende beizutragen.

Von Hans-Christoph Neidlein