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Bei Dunkelflaute drohen Lücken 13.04.2022, 15:01 Uhr

Stromversorgung: 2023 könnte es in Deutschland eng werden

Auch wenn es keine Einbußen beim Erdgas gibt: Im kommenden Jahr reichen die konventionellen Kraftwerke in Extremsituationen nicht mehr aus, um bei Dunkelflauten genügend Strom zu erzeugen. Dies prognostiziert der Verein „Kerntechnik Deutschland“.

Das Kernkraftwerk Neckarwestheim. Hier produziert EnBW Strom mit einem Druckwasserreaktor. Dieser Block II ging 1989 ans Netz und hat eine elektrische Leistung von 1 400 MW. Block I wurde bereits stillgelegt und befindet sich im Rückbau. Foto: EnBW

Das Kernkraftwerk Neckarwestheim. Hier produziert EnBW Strom mit einem Druckwasserreaktor. Dieser Block II ging 1989 ans Netz und hat eine elektrische Leistung von 1 400 MW. Block I wurde bereits stillgelegt und befindet sich im Rückbau.

Foto: EnBW

Ab Januar 2023 könnte die Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland zeitweise in Gefahr geraten, warnt der Verein Kerntechnik Deutschland in Berlin. Und das sogar dann, wenn Erdgas in gewohntem Umfang fließt. Schuld daran ist zum einen die Abschaltung der letzten drei deutschen Kernkraftwerke zum 31. Dezember 2022, die in diesem Jahr noch mit 4 GW zur Stromerzeugung beitragen, zum anderen die Stilllegung von Kohlekraftwerken, die noch forciert wird. Dass der Verein vor der Stilllegung der Kernkraftwerke warnt könnte man als typisch ansehen, hätte er nicht eine Rechnung aufgemacht, die die These stützt.

Norwegen ist Deutschlands größte Batterie

„NordLink“ kann Stromlücken verkleinern

Die vier Betreiber der Übertragungsnetze in Deutschland gehen von einem maximalen Tagesbedarf für 2021 und 2022 von 87,9 GW aus (maximaler Strombedarf in der Stunde des Jahres mit dem höchsten Verbrauch). Dieser wird auch für 2023 angesetzt. Schon in diesem Jahr lässt sich dieser Strombedarf allerdings gemäß Monitoringbericht 2021 der Bundesnetzagentur (BNetzA) nicht von Anlagen decken, die wetterunabhängig sind. Das sind in erster Linie Kernkraft-, Wasser-, Kohle-, Gas- und Ölkraftwerke sowie Müllverbrennungsanlagen und Wasserkraftwerke in Norwegen, deren Energie über NordLink nach Deutschland transportiert werden kann.

Die Konverterstation für die Stromtrasse NordLink in Wilster/Schleswig-Holstein. Die Leitung transportiert Überschussstrom aus Deutschland nach Norwegen, bei Unterdeckung hierzulande fließt er aus norwegischen Wasserkarftwerken in die Gegenrichtung.

Foto: Tennet

Die prognostizierte Unterdeckung liegt bei 4,85 GW, wenn an einem Tag Solar- und Windkraftwerke wetterbedingt vollkommen ausfallen. NordLink könnte davon 1,4 GW auffangen. Den Rest würden Speicher schaffen, allerdings nur für ein paar Stunden. 2023 liegt diese Lücke bereits bei 10,7 GW. Eine sogenannte Dunkelflaute, bei der kaum Wind weht und die Sonne wetter- oder tageszeitbedingt nicht scheint, passiert zwar selten, doch sie ist denkbar. In einem solchen Fall müssten große Stromverbraucher wie Aluminiumwerke und Lichtbogenöfen zur Stahlherstellung abgeschaltet werden, um einen großen Blackout mit fatalen Folgen für Haushalte, Industrie und Verkehr zu verhindern.

Der massive Ausbau von Solar- und Windenergie allein bringt gar nichts

Am frühen Abend kann es passieren

Konkret könnte die Situation so aussehen: „Die Stunde mit der Höchstlast fällt aufgrund der Erfahrungswerte der vergangenen Jahrzehnte auf eine frühe Abendstunde in einem Wintermonat bei kalter winterlicher Witterung, sodass die Erzeugung mittels Photovoltaik bei null anzusetzen ist“, heißt es in der Analyse. In einer Dunkelflautensituation setzt die Analyse für die Windkraft maximal 5 % der installierten Leistung als verfügbar an, also rund 3,3 GW von dann installierten rund 66 GW aus Onshore- und Offshore-Anlagen. Die tatsächliche Leistung der Windkraftanlagen könne aber auch mehrere Tage lang unter die Fünf-Prozent-Marke fallen.

Ob Nachbarländer helfen können ist fraglich

Die Lücken könnten durchaus noch größer sein als die rein rechnerisch ermittelten. Wartungs- und manche Reparaturarbeiten könnten zwar geplant und in Zeiten verlegt werden, in denen Wind- und Solarkraftwerke relativ zuverlässig liefern. Doch es gebe immer wieder, wenn auch relativ selten, technische Störungen, die ganze Kraftwerke ausfallen lassen. Pauschal setzt die Analyse für diese Fälle einen Ausfall von 5 % der gesamten installierten Kraftwerksleistung an. Auf der Grundlage dieser durchaus realistischen Annahmen verbleibt eine Lücke von 4,9 GW im kommenden Jahr. Diese Leistung könnte durch Importe ausgeglichen werden, vorausgesetzt, Deutschlands Nachbarn haben in einer Notsituation so viel übrig. Rein technisch ließe es sich machen. Nach Angaben der BNetzA können die grenzüberschreitenden Leitungen stolze 23 GW liefern.

Es könnte noch schlimmer werden

Möglicherweise sind diese Rechnungen noch zu optimistisch. Zum einen wird der Strombedarf angesichts der zunehmenden Elektrifizierung vor allem im Verkehrsbereich noch steigen. Zum anderen könnten die Gasimporte aus Russland sinken oder ganz wegfallen. Dann würden die Pläne der Bundesregierung, die Stilllegung von Kern- und Kohlekraftwerken für eine „Übergangszeit“ durch Erdgaskraftwerke aufzufangen, zur Makulatur.

Von Wolfgang Kempkens