Zum E-Paper
Stromeinkauf optimieren 23.09.2025, 10:00 Uhr

Autopilot für Strom hilft beim Dekarbonisieren

Ein Bonner Start-up bietet Unternehmen einen Autopiloten für Strom an. Statt starrer Lieferverträge schaut dieser auf intelligente Weise, wie Strom gleichzeitig kostengünstig und nachhaltig beschafft werden kann.

Auf diesem Dashboard informiert das Bonner Start-up Eco2Grow einen Kunden aus der Kunststoffindustrie darüber, wie sich die aktuelle Strombeschaffungsstrategie auf seine Energiekosten auswirkt. Foto: Eco2Grow

Auf diesem Dashboard informiert das Bonner Start-up Eco2Grow einen Kunden aus der Kunststoffindustrie darüber, wie sich die aktuelle Strombeschaffungsstrategie auf seine Energiekosten auswirkt.

Foto: Eco2Grow

Die Strombeschaffung ist längst keine Routineaufgabe mehr. Kurzfristige Preisschwankungen an der europäischen Strombörse, der European Energy Exchange (EEX) in Leipzig, ausgelöst durch die stark variierende Einspeisung erneuerbarer Energien, treten heute häufiger auf und können bis hin zu Preisschocks reichen. Auch der Terminmarkt, früher ein vergleichsweise stabiles Instrument zur Preisabsicherung, zeigt inzwischen stärkere Volatilität.

Hinzu kommt eine wachsende Zahl regulatorischer Vorgaben, die den Aufwand zusätzlich erhöhen. Parallel dazu steigt der Anspruch, die Herkunft der Energie lückenlos nachweisen zu können, etwa durch Herkunftsnachweise (HKN) oder Power Purchase Agreements (PPA) mit Wind- oder Solarparks.

Genau hier setzt der „Energieautopilot“ an, ein neuer Ansatz des Start-ups Eco2Grow aus Bonn. Dieser Autopilot optimiert datengetrieben die Beschaffung, analysiert Lastprofile und reagiert auf Marktveränderungen in Echtzeit.

Strommarkt im Umbruch

Die industrielle Strombeschaffung folgt heute anderen Mustern als vor zehn Jahren. Drei Faktoren treiben die Veränderung:

  • Volatilität der Märkte: Die zunehmende Integration erneuerbarer Energien führt zu starken Preisschwankungen an Spot- und Terminmärkten. Unternehmen müssen flexibler reagieren, als es klassische Jahresverträge erlauben.
  • Kostendruck: In vielen Industriebetrieben ist Energie einer der größten Kostenblöcke. Fehlentscheidungen bei deren Beschaffung wirken sich unmittelbar auf Margen aus.
  • Nachhaltigkeitsanforderungen: Kunden und Gesetzgeber verlangen CO2-arme oder -freie Energie. Die Integration von Grünstrom ist jedoch oft technisch und organisatorisch komplex oder mit Zusatzkosten verbunden.

Damit entsteht ein Spannungsfeld, das Betriebe oft ohne eigene Energieteams bewältigen müssen.

Die Lösung: der Autopilot

Der Autopilot überträgt ein bekanntes Prinzip aus der Industrie auf die Stromversorgung: die kontinuierliche Regelung auf Basis von Messwerten. Was Prozessleitsysteme in der Fertigung leisten, übernimmt hier ein KI-gestütztes Dashboard für den Energieeinkauf.

Grundlage bildet die detaillierte Analyse des Verbrauchs. Über intelligente Messsysteme werden Lastgänge mit 15-Minuten-Auflösung erfasst. Algorithmen erkennen wiederkehrende Muster wie Lastspitzen durch Schichtwechsel oder konstante Grundlasten in bestimmten Aggregaten. Auf dieser Basis lassen sich Verbesserungspotenziale finden, die bei pauschaler Betrachtung verborgen bleiben.

Autopilot mit Beschaffungsstrategie

Darauf aufbauend entwickelt das System eine individuelle Strategie. Anstatt auf starre Lieferantenverträge zu vertrauen, kombiniert der Autopilot über mehrere Jahre unterschiedliche Produkte:

  • Spotmarktanteile, um von niedrigen Preisen bei hoher Einspeisung von Wind und Sonne zu profitieren;
  • Terminmarktanteile, um Planbarkeit und Preisstabilität zu sichern;
  • PPAs, um langfristig Grünstrom direkt aus Erzeugungsanlagen zu beziehen.

Der Autopilot passt diesen Mix dynamisch an: Erkennt das System beispielsweise eine bevorstehende Preisrallye am Spotmarkt, erhöht es den Anteil langfristiger Produkte, ähnlich einem Portfolio-Management im Finanzsektor. Über integrierte Herkunftsnachweise lässt sich lückenlos dokumentieren, aus welchen Quellen der bezogene Strom stammt. Damit werden nicht nur Kosten, sondern auch der CO2-Fußabdruck der Energieversorgung transparent nachvollziehbar.

Autopilot hilft zu dekarbonisieren

Ein Beispiel aus der Kunststoffverarbeitung verdeutlicht das Potenzial in einer Modellrechnung: Für einen mittelständischen Betrieb mit 24/7-Produktion hätte der Einsatz des Autopiloten im Jahr 2024 den Anteil erneuerbarer Energien in der Versorgung von 0 auf 30 % erhöht und gleichzeitig die Beschaffungskosten um rund 20 % gegenüber dem bestehenden Vertragsmodell gesenkt. Möglich ist dies durch eine Kombination aus Spotmarktanteilen, Quartalstranchen und einem PPA-Mix aus Wind- und Solarparks. Der Autopilot berücksichtigt dabei automatisch die individuellen Präferenzen des Unternehmens – etwa, ob Grünstrom bevorzugt werden soll – und integriert erneuerbare Energien intelligent, sobald dies wirtschaftlich und technisch sinnvoll ist.

Herausforderungen in der Praxis

Die Umsetzung einer intelligenten und flexiblen Strombeschaffungsstrategie bleibt anspruchsvoll:

  • Datenqualität: Für eine belastbare Analyse kommt es besonders auf die Qualität und Konsistenz der Messdaten an. Fehlerhafte Messwerte, fehlende Zeitintervalle oder unklare Zuordnungen können zu falschen Schlüssen führen und müssen daher zuverlässig erkannt und korrigiert werden.
  • Marktdynamik: Der Energiemarkt in der EU reagiert sensibel auf geopolitische Ereignisse. Algorithmen müssen robust genug sein, auch in Ausnahmesituationen belastbare Entscheidungen zu treffen.
  • Regulatorik: Vorschriften zu Herkunftsnachweisen oder Bilanzkreisen ändern sich regelmäßig. Systeme müssen flexibel angepasst werden, ohne den Betrieb zu stören.

Die zentrale Frage ist daher nicht mehr, ob Digitalisierung notwendig ist, sondern wie tief sie in bestehende Prozesse integriert werden kann.

Blick nach vorn: K 2025 als Plattform

Auf der K Messe 2025 in Düsseldorf stellt Eco2Grow aus Bonn den Energieautopilot in einem Dashboard vor. Besucherinnen und Besucher können dort anhand realer Datensätze nachvollziehen, wie Beschaffungsstrategien sich in der Realität auswirken. Darüber hinaus ist die Teilnahme am Start-up-Pitch im Rahmen der Initiative Towards Zero von Plastics Europe geplant.

Das dreiköpfige Gründungsteam von Eco2Grow (von links): Konrad Ciezarek, Geschäftsführer Technik, Niklas Radermacher, Geschäftsführer Produkt, und Paul Appel, Geschäftsführer Unternehmensentwicklung.

Foto: Eco2Grow

Fazit

Die Energieversorgung der Industrie steht an einem Wendepunkt: Sie muss nicht nur bezahlbar und zuverlässig sein, sondern auch einen messbaren Beitrag zur Dekarbonisierung leisten. Energiemanagement entwickelt sich damit weg von statischen Verträgen hin zu dynamischen, datengetriebenen Strategien. Der Energieautopilot zeigt, wie sich Prinzipien aus der Prozesssteuerung auf die Strombeschaffung übertragen lassen: Messwerte erfassen, Muster erkennen, Regelstrategien anpassen. Energie wird dadurch zu einem steuerbaren Parameter in der industriellen Wertschöpfung und nicht länger zu einem unberechenbaren Risiko.

Niklas Radermacher ist Mitgründer und Geschäftsführer des Start-ups Eco2Grow
niklas@eco2grow.com