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Biobasierte Materialien 27.10.2025, 10:00 Uhr

Wenn Pilze Häuser bauen – Myzel als Werkstoff der Zukunft

Forschende am Fraunhofer-Institut für Holzforschung, Wilhelm-Klauditz-Institut (WKI), entwickeln aus Pilzmyzel nachhaltige Baustoffe und Designobjekte. Das wachsende Material verbindet biologische Prozesse mit technischer Präzision – und zeigt, wie sich Naturprinzipien für ressourcenschonendes Bauen nutzen lassen.

Wild mushrooms among the green mosses in the forest

Für Pilzfans ist der Herbst die Hauptsaison, denn die feuchteren Bedingungen und sinkenden Temperaturen sind ideal für das Wachstum der Pilze. Wenn sich Dr. Henrik-Alexander Christ und Dr. Steffen Sydow vom Fraunhofer WKI auf die Suche nach Pilzen begeben, interessieren sie sich jedoch nicht nur für den Fruchtkörper. Für die Forschenden ist vor allem das fadenförmige Geflecht der Hyphen, das sogenannte Myzel, spannend.

Foto: Smarterpix / darekb22

Wenn sich im Herbst Pilze durch feuchtes Laub schieben, richtet sich das Interesse vieler Menschen auf die Fruchtkörper. Für Dr. Henrik-Alexander Christ und Dr. Steffen Sydow vom Fraunhofer WKI liegt das eigentliche Forschungsfeld jedoch unter der Erde. Dort bilden Pilze mit ihren fadenförmigen Zellen – den sogenannten Hyphen – ein dichtes Netzwerk, das als Myzel bezeichnet wird.

Dieses Geflecht besitzt Eigenschaften, die es für die Materialforschung besonders interessant machen. Es kann organische Stoffe zersetzen, sich selbst organisieren und in Form bringen lassen. Die beiden Wissenschaftler erforschen, wie sich diese Fähigkeiten für den Bau und die Entwicklung nachhaltiger Werkstoffe nutzen lassen.

„Die Vielfalt und Biodiversität im Reich der Pilze ist enorm: Pro Pflanzenart kommen in einem Gebiet etwa sechs Pilzarten vor. Bisher wurden jedoch nur etwa zehn Prozent aller Pilzarten auf der Welt entdeckt und beschrieben. Nicht nur viele Pilzarten, sondern auch viele Funktionsweisen des Myzels sind noch unbekannt. Als Chemiker und Materialforscher mit einer zusätzlichen Ausbildung im Bereich Mykologie fasziniert mich die vielfältige Einsatzmöglichkeit von Myzel in Werkstoffen. Wir haben hier die Chance, ökologisch unbedenkliche und recyclingfähige Materialien zu entwickeln und damit Gutes zu bewirken“, erklärt Dr. Henrik-Alexander Christ, Wissenschaftler am Fraunhofer WKI.

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Biologischer Klebstoff mit Potenzial

Das Myzel entsteht, wenn Pilze organische Materialien wie Holzpartikel oder Pflanzenfasern zersetzen. Während dieses Prozesses bildet sich ein dreidimensionales Netzwerk, das zu einer stabilen, selbsttragenden Struktur aushärtet. „Das Myzel hat sozusagen die Funktion eines biologisch gewachsenen Klebstoffs“, fasst Dr. Henrik-Alexander Christ zusammen. Auf diese Weise entsteht ein weiches, schwammartiges Verbundmaterial, das sich in beliebige Formen bringen lässt. Die Forschenden nutzen diese Eigenschaft, um neuartige, vollständig biobasierte Werkstoffe herzustellen – eine Verbindung von Naturstoff und Ingenieurwissen.

Baustoff aus Elefantengras und Pilzmyzel

Im Fraunhofer WKI entstehen derzeit Materialien, die herkömmliche Baustoffe ersetzen könnten. „Durch die Verwendung von organischen Substraten wie Fasern aus Elefantengras können wir Reststoffe nutzen, um einen zu 100 % biobasierten, abbaubaren, nachwachsenden und energiearmen Baustoff herzustellen. Mithilfe verschiedener Verfahren können die gewünschten Eigenschaften und Leistungsmerkmale des Baustoffs, wie Textur, Festigkeit, Elastizität und Faserorientierung, gesteuert und gezielt erzeugt werden“, erläutert Dr. Steffen Sydow, Wissenschaftler am Fraunhofer WKI. Gemeinsam mit Partnern aus Braunschweig wurden bereits erste Anwendungen umgesetzt. So entwickelten die Forschenden Dämmstoffe für Gebäude und gestalteten ein Bühnenbild für das Staatstheater Braunschweig – gefertigt aus mit Myzel durchwachsenen Elefantengrasfasern. Auch Lampenschirme aus heißgepresstem Myzelmaterial kamen dort zum Einsatz.

„Mit den Lampenschirmen konnten wir die Kompetenz des Fraunhofer WKI auf eine weitere Weise unter Beweis stellen. Die pilzartig geformten Schirme bestehen aus teilweise heißgepresstem Myzelmaterial. Es gibt zahlreiche weitere potenzielle Einsatzmöglichkeiten für heißgepresste Myzelmaterialien, an denen wir sehr gern weiterforschen würden“, berichtet Dr. Steffen Sydow.

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Forschung zwischen Wissenschaft und Kunst

In der Natur bilden Pilzmyzele weit verzweigte Netzwerke und treten in Symbiose mit Pflanzen. Auch in der Forschung entstehen solche Netzwerke – etwa im Projekt „LuminousNetworks“, das vom Fraunhofer-Netzwerk Wissenschaft, Kunst und Design gefördert wird. „Mit dem Projekt ›LuminousNetworks‹ möchten wir die faszinierenden Möglichkeiten von myzelbasierten Materialien einer breiten Öffentlichkeit nahebringen. Der bildende Künstler Malte Taffner nutzt unser technologisches Know-how, um Skulpturen aus Holzresten und lebendigem Myzel zu erschaffen – bunt schillernd und mit natürlichem Schutzschild. In seiner künstlerischen Auseinandersetzung verknüpft Malte Taffner technologische Innovationen mit aktuellen Fragestellungen im Hinblick auf Diversität und Schutz als Überlebensstrategie für die Natur und soziale Gemeinschaften“, berichtet Dr. Henrik-Alexander Christ.

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Forschung mit Wurzeln

Nachhaltigkeit ist seit der Gründung des Fraunhofer-Instituts für Holzforschung – Wilhelm-Klauditz-Institut (WKI) im Jahr 1946 zentraler Bestandteil der Institutsphilosophie. Der Namensgeber Dr. Wilhelm Klauditz gilt als Pionier der modernen Holzwerkstoffindustrie. Heute forscht das Institut an drei Standorten – Braunschweig, Hannover und Wolfsburg – an der Entwicklung nachhaltiger Werkstoffe, Bauteile und chemischer Verfahren auf Basis nachwachsender Rohstoffe.

Schwerpunkte sind Verfahrenstechnik, Formgebung und Komponentenfertigung mit Biowerkstoffen, biobasierte Bindemittel, Brandschutz, Innenraumluftqualität, Recyclingmethoden und der Einsatz biogener Materialien im Bauwesen und in Fahrzeugen. Nahezu alle entwickelten Verfahren und Produkte finden bereits Anwendung in der Industrie.

Das Fraunhofer WKI leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer biobasierten Kreislaufwirtschaft – und zeigt, dass Innovation im Materialbereich auch dann gelingen kann, wenn man in den Boden schaut, nicht nur auf den Bildschirm.

Von Fraunhofer WKI / RMW