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+++ Exklusiver Fachartikel +++ 22.03.2021, 08:00 Uhr

Digitalisierung modular umsetzen

Die Nutzungs eines monolithischen Manufacturing Operations Management (MOM) ist ist ein Weg in die Digitalisierung. Aufgrund der Akquise der Low-Code-Plattform Mendix hat Siemens untersucht, ob sich eine MOM-Lösung auf Basis von App-Bausteinen entwickeln oder erweitern lässt. Gleichzeitig wurde untersucht, wie sich eine solche Lösung von einer herkömmlichen Entwicklung unterscheidet und wie sie eingesetzt werden muss, damit sie Mehrwert erzeugt. Es zeigt sich, dass deren Modularität eine schrittweise Digitalisierung in kleinen und mittelständischen Unternehmenseinheiten ermöglicht.

Bild: Michael Meyer-Hentschel

Bild: Michael Meyer-Hentschel

Seit einigen Jahren kursiert das Schlagwort „Low-Code“ vermehrt innerhalb von Digitalisierungsstrategien und auch innerhalb des Siemens Konzerns. Hintergrund für dieses erhöhte Interesse ist oft die Frage, wie eine monolithische Manufacturing Operations Management Lösung (MOM) mit den funktionalen Bausteinen einer Low-Code-Plattform wie Mendix verknüpft und ergänzt werden kann. Erste Projekte im industriellen Umfeld zeigen den Mehrwert und das Potential dieser Technik.

„Low Code ist prädestiniert für die Entwicklung individueller Lösungen.“

Es gibt einige zentrale Fragen, die über den Einsatz entscheiden:

  • Wie unterscheidet sich eine MOM-Lösung, die auf Basis von App-Bausteinen unter Verwendung einer Low-Code Plattform entwickelt wurde, von herkömmlich entwickelten MOM-Lösung?
  • Wo ist der Einsatz einer Lösung, basierend auf einer Low-Code-Plattform, sinnvoll und wodurch wird damit ein Mehrwert für ein Unternehmen erzeugt?
  • Wie kann diese Technik gewinnbringend angewendet werden, um damit das größtmögliche Potenzial auszuschöpfen?

Applikationen schneller und kostengünstiger entwickeln

Low-Code-Plattformen verfolgen das Ziel, die Applikationsentwicklung zu beschleunigen, nachhaltiger und kosteneffizienter zu gestalten. Mit ihnen soll der stetig wachsende Bedarf an flexiblen, anpassbaren und skalierbaren Lösungen für die Anwender abgedeckt werden.

Der wohl markanteste Unterschied zwischen Low-Code-Plattformen und konventionellen (basierend auf „Hard-Code“) Entwicklungsumgebungen ist der, dass bei Low-Code-Plattformen sowohl die Benutzeroberfläche einer Applikation als auch deren Logik im Hintergrund auf vorgefertigten Bausteinen basiert [1]. Die Schnittstellen zu datenhaltenden Systemen (zum Beispiel ERP oder PDM) und IoT-Devices werden ebenfalls über vorgefertigte Bausteine, visuell per Drag&Drop konfiguriert. Der klassische „Hard-Code“, der nur von Spezialisten beherrscht wird, rückt in den Hintergrund (Bild 1).

Quelle vieler Informationen sind Anwendungssysteme und externe Datentöpfe. Im Gegensatz zum konventionellen Programmieren bedient sich die „Low-Code“-Methode schon vorgefertigter Funktionselemente. Bild: Michael Meyer-Hentschel

Außer diesem Unterscheidungsmerkmal zeichnen sich Low-Code-Plattformen weiter dadurch aus, dass auch der gesamte Lebenszyklus von Applikationen auf einer Plattform abgebildet und verwaltet werden kann [4]. Dies gilt, angefangen bei der Anforderungsaufnahme beim Anwender, über das Erstellen der Applikation und ihren Funktionen bis hin zu deren Betrieb. Dadurch eröffnen sie eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen der Fachabteilung und der IT. Um das um- zusetzen, werden sogenannte „Citizen Developer“ mit IT-Experten auf einer Low-Code-Plattform vereint. Citizen Developer sind Mitarbeiter, die primär in den Fachabteilungen angesiedelt sind und IT-Affinität mit starker fachlicher Expertise verbinden. Dadurch werden Kommunikations- und Verständnis-Barrieren minimiert und es erfolgt ein zielgerichtetes Bündeln des Fachwissens – alle Beteiligten können sich auf ihre Kernkompetenzen fokussieren und gemeinsam eine zielorientierte, funktionale Lösung schaffen.

Ein Forschungsteam aus dem Bereich Digital Manufacturing Technologies (DMT) arbeitet intensiv an Antworten zu den Fragen, die sich beim Nutzen von Low-Code-Methoden im MOM-Umfeld ergeben. Das DMT-Team gehört zu newT, dem neu formierten Forschungsbereich „Technology“ der Siemens AG, der rund 4000 Wissenschaftler umfasst.

Konzepte und Strategien für den Mittelstand

Einer der DMT-Wissenschaftler ist Michael Meyer-Hentschel — ihn und seine Kollegen treibt dabei vor allem die Unterstützung des Mittelstands bei der Digitalisierung der Fertigungs- und Montageprozesse an. Zusammen mit Adam Myszkowski und einem der Autoren (O. Lohse) entwickelt er innovative Konzepte und Strategien, die diese neue Technik zielgerichtet, mit kleinen Funktionsbausteinen skalierbar anwendbar macht. Dabei stehen korrespondierende Einsatzszenarien einzelner Funktionsbausteine im Vordergrund, um Mehrfachentwicklungen zu vermeiden und so den größtmöglichen Mehrwert für die Unternehmen zu erzielen. Das DMT-Forschungsteam sucht sich Anwendungsfälle in den Siemenswerken, bespricht mit den Anwendern die jeweiligen Anforderungen und „baut“ dann mit ihnen gemeinsam einen Lösungs-Baukasten (Bild 2).

Die Logik der Funktionsbausteine (APP) und die Benutzeroberfläche (UI) werden bei einem „Low-Code-Prozess“ aus Modulen und Submodulen„zusammengebaut“. Bild: Michael Meyer-Hentschel

Die so entstehende Bibliothek an funktionalen Bausteinen [2], sogenannte Submodule, kann als Basis für weitere, noch nicht spezifizierte Anwendungsfälle dienen und könnte anderen Kunden zugänglich gemacht werden.

Low-Code-Plattformen können aus dieser Betrachtungsweise heraus auch als ganzheitliche Digitalisierungsplattformen verstanden werden, die eine modulare Einführung von einzelnen Digitalisierungslösungen ermöglichen. Denn insbesondere in kleinen, oft mittelständig organisierten Einheiten der Siemens AG stellt sich die Frage nach sinnvollen Digitalisierungsstrategien, Einsatzgebieten und -szenarien für MOM-Lösungen.

Das Thema Datensicherheit stellt beim Einsatz der MOM-Lösungen beim Endkunden mit besonders hohen Qualitätsanforderungen meist eine besondere Herausforderung dar. In mittelständischen Unternehmen liegt häufig ein geringer Automatisierungsgrad und kleine Stückzahlen (Losgrößen), gepaart mit einer ausgezeichneten Qualität vor. So ist der Arbeitsauftrag an das DMT-Team in der Regel die Entwicklung einer ganzheitlichen Digitalisierungsstrategie, um die Produktion effizienter zu gestalten und die Position als Marktführer langfristig sicherzustellen, ohne die Flexibilität als unternehmerisches „Schnellboot“ zu verlieren.

Papierbasierte Prozesse, wie die Abwicklung der Fertigungsaufträge, das Qualitätsmanagement oder die Teilerückverfolgung rufen meist auch Medienbrüche zu den ERP- oder PDM-Systemen hervor. Viele Daten werden manuell erfasst und dann von Hand in die EDV-Lösungen eingetragen. Daher ist in der Regel die Priorität zur Digitalisierung gerade dieser Prozesse sehr hoch.

Digitalisierungslücken schrittweise schließen

An dieser Stelle kommt die Low-Code-Technik ins Spiel, die prädestiniert für die Entwicklung individueller Lösungen ist, so Meyer-Hentschel. Diese werden passgenau für die zu unterstützenden Prozesse entwickelt und in die bestehende IT-Architektur eingepasst [3]. Es werden also zielgerichtet die Lösungen entwickelt, die fehlende Funktionen (beispielsweise das Erfassen und Speichern von Messwerten) abbilden und so schrittweise die Digitalisierungslücken schließen (Bild 3).

Die mittels Low-Code entwickelten Funktionsbausteine (APPs) werden in die bestehende IT-Architektur integriert. Bild: Michael Meyer-Hentschel

Diese neuen Funktionen werden in sogenannten Modulen gruppiert und müssen auch nicht immer neu entwickelt werden, sondern können mittels kleinerer Funktionsbausteine, den Submodulen „zusammengestellt“ sein.

So besteht eine App aus Submodulen, der kleinsten logischen Gruppierung von Benutzeroberflächen- und Logik-Elementen, die wiederum zu Modulen verknüpft werden, um eine übergeordnete Funktion abbilden zu können. Ein Submodul ist beispielsweise die Eingabe der Material- oder Artikelnummer – dieses Submodul wird fast in jeder Maske gebraucht. Ein Modul stellt dann zum Beispiel die Eingabe der Material- oder Artikelnummer mit der Vergabe einer Serialnummer und der Anzeige der Zeichnung oder des JT-viewer-files als gruppierte Funktion zur Verfügung. Dieses Beispiel zeigt, dass die, in der Industrie und im Mittelstand vorhandene hohe Anforderung an individuelle Lösungen so sehr schnell und vor allem einfach zu erfüllen ist. An vielen Stellen fehlt es heute noch an Konzepten, die diese neue Technik zielführend und nachhaltig anwenden und dessen Potential voll ausschöpfen lässt, so Adam Myszkowski.

Das Grundprinzip von Low-Code-Plattformen, also die Bereitstellung von vorgefertigten Oberflächen- und Logik-Elementen hat das DMT-Team dazu inspiriert, diesen Ansatz weiterzudenken und eine Bibliothek an modularen funktionsorientierten Software-Bausteinen zu entwickeln. Dabei wird das Ziel verfolgt, entsprechende Module und Submodule zu entwickeln, die einen definierten Funktionsumfang abdecken, der so gewählt wird, dass ein möglichst breites Einsatzspektrum durch ihn bedient werden kann, so Meyer-Hentschel. Diese Funktionen spielen sowohl in der Montage als auch in Logistik und Qualität eine wesentliche Rolle. Derzeit wird auch an Methoden der Künstlichen Intelligenz gearbeitet, mit denen APPs und Module in allen Anwendungsbereichen der Fertigung und Montage funktional erweitert werden können. 

Literatur

  1. Adrian, B., Hinrichsen, S., Nikolenko, A.: ‘App Development via Low-Code Programming as Part of Modern Industrial Engineering Education’, in Nunes, I.L. (Ed.): ‘Advances in Human Factors and Systems Interaction’ (Springer International Publishing, Cham, 2020), pp. 45–51
  2. Shaikh, K.: ‘Demystifying Azure AI’ (Apress, Berkeley, CA, 2020)
  3. Hinrichsen, S., Adrian, B., Schulz, A.: ‘Approaches to Improve Shop Floor Management’, in Ahram, T., Taiar, R., Langlois, K., Choplin, A. (Eds.): ‘Human Interaction, Emerging Technologies and Future Applications III’ (Springer International Publishing, Cham, 2021), pp. 415–421
  4. Sahay, A., Indamutsa, A., Di Ruscio, D., Pierantonio, A.: ‘Supporting the understanding and comparison of low-code development platforms’. 2020 46th Euromicro Conference on Software Engineering and Advanced Applications (SEAA), Portoroz, Slovenia, Aug. 26–28, 2020, pp. 171– 178

 

M.Sc. (Ing. Univ.) Oliver Lohse
Entwicklungsingenieur im Bereich DMT der Siemens AG
Tel.: 01 73 / 3 17 04 80
oliver.lohse@siemens.com
Dr.-Ing. Peter Robl
Leiter Research Group im Bereich DMT der Siemens AG
Tel. 0 15 22 / 3 15 09 78
peter.robl@siemens.com
Kontakt:
Siemens AG
T REE MDM DMT-DE
81739 München www.siemens.com