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Mikroaktorik bietet neue Möglichkeiten 23.03.2019, 00:00 Uhr

Lineare und rotative „Motoren“ aus einem Stück Metall

Lange Zeit wurden Mikro-Aktoren auf der Basis von Memorymetallen für Außenseiter der Antriebstechnik gehalten. Doch inzwischen schätzen Insider die weltweite Produktion von Stellantrieben auf der Basis von Formgedächtnisdrähten und -folien auf jährlich über 50 Mio. Stück. Die Akzeptanz der smarten Aktoren nimmt unverkennbar zu. Technisch gefallen sie durch minimale Baumaße, geringe Leistungsaufnahme und Zyklenfestigkeiten, bis hin zu 100 Mio. Zyklen. Und auch wirtschaftlich haben FGL-Aktoren einiges zu bieten.

Bild 1: Die Anwendung von FGL-Linearaktoren bei Modellbahnkupplungen konnte erfolgreich in Serie gebracht werden. Auf bestehendem Bauraum wird ein ultrakompakter Aktor an der Unterseite der Kupplung angebracht. (Bild: Memetis)

Bild 1: Die Anwendung von FGL-Linearaktoren bei Modellbahnkupplungen konnte erfolgreich in Serie gebracht werden. Auf bestehendem Bauraum wird ein ultrakompakter Aktor an der Unterseite der Kupplung angebracht. (Bild: Memetis)

Alle guten Rezepte beginnen mit „Man nehme“. Für einen FGL-Aktor nehme man also ein Stück Draht oder Folie aus einer speziellen Nickel-Titan-Legierung und forme daraus einen Aktor. Klingt einfach, erfordert aber jede Menge spezifisches Know-how. Wie muss der Formgedächtnis-Werkstoff ausgelegt sein, und wie geformt? Wie lassen sich die aktiven Elemente in eine kleine Funktionsmechanik integrieren? Wie werden sie mit Spannung versorgt? Wie schnell reagieren sie auf Spannungs- oder Temperaturänderungen? Angesichts des großen Fragenkatalogs ist sicher: Wer mithilfe dieser Technik eine Anwendung zum Erfolg führen will, kommt um die Mitarbeit erfahrener Spezialisten kaum herum.

Veränderungen der Eigenschaften technisch nutzen

Legierungen und Metalle verändern in Abhängigkeit der Temperatur ihre Kristallstruktur. Erfreulich dabei: die Veränderungen der physikalischen und chemischen Eigenschaften können technisch genutzt werden. Bau­teile aus Formgedächtnislegierungen ändern zum Beispiel ihre äußere Form. In der Niedertemperaturphase – als Martensit-Phase bezeichnet − können sie leicht verformt werden, während in der Austenit-Phase, also bei erhöhter Temperatur die Rückkehr zu ihrer Ausgangsform eintritt. Leider funk­tioniert das „Man nehme“ nicht so einfach, dass man sich beim Metallhandel eine Rolle Draht oder Metall­folie bestellt und mit dem Seitenschneider oder der Blechschere ein Stück davon abschneidet. Vielmehr muss man richtig tief in die Materie einsteigen, wenn man einen FGL-Aktor entwickeln will − oder eben auf externes Knowhow zugreifen.

Bild 2: Die Kenndaten sprechen für sich. Aktoren auf der Basis von Formgedächtnislegierungen sind interessante Alternativen zu Elektromagneten und elektrischen Mikromotoren. (Bild: Memetis)

Bild 2: Die Kenndaten sprechen für sich. Aktoren auf der Basis von Formgedächtnislegierungen sind interessante Alternativen zu Elektromagneten und elektrischen Mikromotoren. (Bild: Memetis)

Ein Premium-Hersteller von Modelleisenbahnen hat zusammen mit FGL-Experten der Memetis GmbH auf der Basis von FGL-Folien eine fernsteuerbare Kupplung für H0-Modelleisenbahnen zur Serienreife gebracht (Bild 1). Deren Aktor ist so klein, dass er ohne Größenanpassung in das Kupplungsgehäuse passt. Ein anderes Unternehmen fertigt mit FGL-Aktoren Ven­tile für die Automobilindustrie – in Millionenstückzahlen. Dass der Markt wächst, hängt natürlich auch mit der Weiterentwicklung der FGL-Technologie zusammen.

Bild 3: Viele Merkmale sprechen für die lautlose FGL-Aktorik. So auch die Möglichkeit, smarte ruckfreie Bewegungen realisieren zu können. (Bild: Memetis)

Bild 3: Viele Merkmale sprechen für die lautlose FGL-Aktorik. So auch die Möglichkeit, smarte ruckfreie Bewegungen realisieren zu können. (Bild: Memetis)

Zwischenpositionen können angefahren werden

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind multistabile FGL-Aktoren, die von der Memetis GmbH entwickelt wurden. Bei diesen Aktoren beschränkt sich die lineare oder rotative Stellbewegung nicht mehr auf zwei Endlagen. Vielmehr können mit beachtlicher Wiederholgenauigkeit auch Zwischenpositionen „angefahren“ werden. „Allerdings“, räumt Memetis-GF Christoph Wessendorf ein (Bild 4), „können solche Aktoren keine Proportionalantriebe mit beliebig vielen, absolut zu be­stimmenden Positionen ersetzen.“ Da die erzielbare Anzahl an „Haltestellen“ und die realisierbare Genauigkeit bei vielen Anwendungen jedoch völlig ausreicht, ergeben sich gerade in diesen Fällen enorme Kostenvorteile gegenüber alternativen Proportional­lösungen.

bwcon Cyber One Jurysitzung

Bild 4: Christoph Wessendorf, Geschäftsführer bei der Memetis GmbH: „Antriebe auf der Grundlage von Folien, Drähten oder Federn aus Formgedächtnislegierungen ermöglichen Quantensprünge bei der Lösung von Antriebsaufgaben.“ (Bild: Bwcon)

Als Memetis vor wenigen Jahren als Startup-Unternehmen aus dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ausgegründet wurde, konzentrierte sich die Entwicklercrew zunächst auf Mikroventile für Gase und Flüssigkeiten, die sich direkt auf den Steuer- beziehungsweise Analytik-Platinen von Lab-on-Chip-Systemen platzieren lassen. Um diesem Ziel nicht nur in Bezug auf die Baumaße der Ventile gerecht zu werden, entwickelten die jungen Forscher Ventilaktoren aus FGL-Folien, die ihnen dank ausgeklügelter Designlösungen erlauben, sowohl NO-Ventile (normally open) als auch NC-Ventile (normally closed) herzustellen. Nicht nur einfach wirkende Ventile, sondern auch Mehrwege-Ventile und mithilfe eines Add-On sogar Regelventile.

Schaltzeiten ab 10 ms möglich

Die hauchdünnen Folienaktoren aus speziellen Formgedächtnislegierungen werden zunächst durch den Druck des Fluids umgeformt. Durch Erwärmen mittels elektrischen Stroms formen sie sich in Millisekunden in ihre Urform zurück. Je nach Detailausprägung werden Schaltzeiten ab 10 ms erreicht und bis zu 100 Mio. Schaltzyklen. Die kleinsten der von Folienaktoren aktivierten Ventile messen nur 10 x 5 x 2,5 mm (Bilder 2+3).

Neben der kundenspezifischen Ventilentwicklung hat sich Memetis unlängst der allgemeinen FGL-Aktorik geöffnet. Dafür knüpften einige der Firmengründer an die Erfahrungen an, die sie Jahre zuvor im KIT gesammelt hatten. Das Team konnte also auf profunden Kenntnissen aufbauen. „Welche Aktorbauweise im jeweiligen Fall die meisten Vorteile bietet“, berichtet Christoph Wessendorf, „hängt vom zur Verfügung stehenden Bauraum, den geforderten Stellwegen sowie den erforderlichen Schaltkräften ab und muss deshalb aus unseren Erfahrungen heraus abgewogen werden.“

Während bei den Folienaktoren in Miniaturventilen Stellwege ab einem Fünfzigstel Millimeter ausreichen, können bei sehr kleinen draht- und federbasierten FGL-Aktoren auch mehrere Millimeter Stellweg und Kräfte über 10 N erreicht werden. „Unter Umständen sind dafür Umlenkungen erforderlich, ähnlich wie bei einem Flaschenzug“, erklärt Dr. Marcel Gültig, technischer Experte und Mitgründer von Memetis (Bild 5).

Bild 5: Dr. Marcel Gültig, technischer Experte bei Memetis: „Wer als Entwicklungsleiter nur auf das Althergebrachte setzt und dieses zum x-ten Mal optimiert oder mit einem neuen Farbanstrich versieht, der vergibt die Chancen, die in der smarten Aktorik unter Verwendung von Formgedächtniselementen stecken.“ (Bild: Elevator Pitch BW)

Bild 5: Dr. Marcel Gültig, technischer Experte bei Memetis: „Wer als Entwicklungsleiter nur auf das Althergebrachte setzt und dieses zum x-ten Mal optimiert oder mit einem neuen Farbanstrich versieht, der vergibt die Chancen, die in der smarten Aktorik unter Verwendung von Formgedächtniselementen stecken.“ (Bild: Elevator Pitch BW)

 Den besonderen Charme der FGL-­Aktorik sehen die Karlsruher Forscher und Produktentwickler im Wegfall umständlicher Mechanik. Mikro­mechanische Lösungen sind meist sehr aufwendig − von der Entwicklung über die Teilefertigung bis hin zur Montage. Allein die Produktion er­fordert meist hohe Investitionen, die sich teilweise erst bei vollauto-matisierter Fertigung von großen Millionenstückzahlen rechnen. Auf die Frage, wie ein möglicher Anwender er­kennen kann, ob ihm FGL- Aktoren Vorteile bieten, antwortet Christoph Wessendorf kurz und bündig: „Wird eine innovative Lösung in Form eines möglichst kleinen, leichten und leise wirkenden Antriebs gesucht, kommen smarte FGL-Aktoren meist als Alter­native zu Elektromagneten, Elektromotoren, Piezoantrieben oder Pneumatiken in Betracht.“

 

Von Gerhard Vogel

Kontakt:
Memetis GmbH
Gablonzer Straße 27
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E-Mail: team@memetis.com
www.memetis.com