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Stromversorgung der Zukunft 10.03.2022, 10:02 Uhr

Ukraine-Krieg stärkt Kohle und Kernkraft

In Europa, vor allem aber in Deutschland, ist die Versorgungssicherheit in Gefahr. Auf den Rettungsanker Erdgas ist kein Verlass mehr, weil das Risiko von Lieferstopps besteht.

Das Braunkohlekraftwerk Neurath in Grevenbroich bei Düsseldorf ist verglichen mit älteren Anlagen deutlich effizienter. Fällt Erdgas in großem Stil aus, wäre es trotz Klimabedenken eine mögliche Alternative zu Gaskraftwerken zur Sicherstellung der Stromversorgung. Foto: Andre Laaks/RWE

Das Braunkohlekraftwerk Neurath in Grevenbroich bei Düsseldorf ist verglichen mit älteren Anlagen deutlich effizienter. Fällt Erdgas in großem Stil aus, wäre es trotz Klimabedenken eine mögliche Alternative zu Gaskraftwerken zur Sicherstellung der Stromversorgung.

Foto: Andre Laaks/RWE

Mit einem Kompromiss, den Zähneknirschen auf allen Seiten begleitete, ebnete kürzlich die Europäische Kommission den Weg für das Gelingen der Energiewende. Per Federstrich erklärte sie Erdgas zur grünen Energie. Im Gegenzug erhielt die Kernkraft das gleiche Label. Damit schien der Weg für Deutschland frei, in großen Schritten Richtung Klimaneutralität zu marschieren. Die gewaltigen Stromlücken, die die Stilllegung von Kohle- und Kernkraftwerken reißen, sollten durch neue Erdgaskraftwerke gestopft werden, vorerst jedenfalls, bis die Erneuerbaren erwachsen geworden wären und die gesamte Last allein übernehmen könnten – vorausgesetzt, die Politik denkt nicht nur an Windgeneratoren und Solarmodule, sondern auch an großkalibrige Stromspeicher.

An Flüssigerdgas kann Deutschland kaum kommen

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat diesen Plan gründlich durchkreuzt. Vor allem Erdgas aus Russland sollte die deutschen Kraftwerke befeuern. Darauf kann sich jetzt niemand mehr verlassen. Die Erdgas-Pipeline „Nord Stream 2“ wird wohl nie in Betrieb gehen. Und die übrigen Pipelines können jederzeit trockengelegt werden. Flüssigerdgas kann nicht angelandet werden, weil es in Deutschland kein einziges Terminal gibt. Das heißt, dass nur noch die eigenen Reserven zur Verfügung stehen, die ein paar Prozent des Bedarfs decken, sowie niederländisches (13 %) und norwegisches (30 %) Erdgas. Deutlich mehr als 50 % liefert Russland, bisher jedenfalls.

29 LNG-Terminals in Europa

In Europa gibt es derzeit 29 LNG-Terminals (LNG = Liquefied Natural Gas, verflüssigtes Erdgas). Kein einziges davon liegt in Deutschland, das dennoch ein bisschen von dem abbekommt, was im belgischen Zeebrügge, im niederländischen Rotterdam und im französischen Dünkirchen angelandet wird. Möglicherweise kann auch das LNG-Terminal „Swinoujscie“ (Swinemünde) an der polnisch-deutschen Grenze einspringen. Gemeinsam haben sie eine Kapazität von 39 Mrd. m3, von denen Deutschland nur einen – kleinen – Teil bekommen könnte. Angesichts der deutschen Erdgasimporte von gut 87 Mrd. m3 im Jahr 2020 wäre das nicht einmal annähernd ein Ausgleich für die russischen Lieferungen, zumal einige östliche Staaten der Europäischen Union zu teilweise 100 % von russischem Erdgas abhängig sind. Diese müssten im Ernstfall aus den westlichen Staaten mitversorgt werden.

Vor 2026 gibt es kein flüssiges Erdgas

Die deutsche Notlage hat drei Projekten jetzt neuen Schwung gegeben. Die lange geplanten und immer wieder auf die lange Bank geschobenen LNG-Terminals in Wilhelmshaven, Stade und Brunsbüttel könnten jetzt beschleunigt realisiert werden. Deren Kapazität soll bei insgesamt 30 Mrd. m3 liegen, was die Abhängigkeit von russischem Erdgas lediglich lindern würde. Zudem lassen sich die Terminals nicht von heute auf morgen aus dem Boden stampfen. Laut Schätzungen könnte das erste Erdgas 2026 in Stade angelandet werden.

Lösungen zu Lasten des Klimas?

Wie man es auch dreht: Für Erdgaskraftwerke wird nicht allzu viel übrig sein, wenn die Versorgungssicherheit für Haushalte, Gewerbe und Industrie nicht gefährdet werden soll. Erst recht nicht, wenn auch die teilweise bedrohlich leeren Erdgasspeicher vorrangig befüllt werden sollen, wie es Robert Habeck, Minister für Wirtschaft und Klima, plant. Lösungen für das Problem scheinen allesamt zu Lasten des Klimas zu gehen.

Rückbau des Kraftwerks Moorburg gestoppt

Schon hat der Energieversorger Vattenfall die Vorbereitungen für den Rückbau des Steinkohlekraftwerks Moorburg im Hamburger Hafen gestoppt. Es war nach knapp sechseinhalb Betriebsjahren 2021 stillgelegt worden. Die beiden Kraftwerksblöcke mit jeweils 827 MW Leistung erzeugten 11 Mrd. kWh Strom im Jahr, und das, verglichen mit älteren Braunkohleblöcken, deutlich umweltverträglicher. Der Wirkungsgrad erreicht, wenn das Kühlwasser aus der Elbe besonders kalt ist, stolze 46,5 %, das ist mehr als jedes andere Steinkohlekraftwerk auf der Welt. Die beiden weltweit modernsten Braunkohlenblöcke des Kraftwerks Neurath in Grevenbroich bei Düsseldorf kommen auf 43 %. Ältere Braun- und Steinkohlekraftwerke liegen weit unter 40 %. Einen Haken hätte die Wiederinbetriebnahme von Moorburg – neben den Auswirkungen auf das Klima – allerdings: Das Kraftwerk braucht Importkohle, die zu fast 40 % aus Russland stammt.

Ausstieg von den Ausstiegen?

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hat bereits den Ausstieg aus der Kohle in Frage gestellt. Das Berliner Beratungsunternehmens Aurora Energy Research, das zu Aurora Energiewende gehört, rechnet vor, dass eine spätere Abschaltung von Atom- und Kohlekraftwerken mit einer Kapazität von insgesamt 25 GW rund 12 Mrd. m3 Gasverbrauch durch Gaskraftwerke ausgleichen würde.

Die neuen Chancen der Kernenergie

Das bisher Undenkbare könnte möglich werden: Der Weiterbetrieb der drei noch verbliebenen deutschen Kernkraftwerke, die Ende dieses Jahres abgeschaltet werden sollen. Die Betreiber E.on, RWE und EnBW lehnen das allerdings ab. „Kurz vor dem Abschalten in Deutschland eine Debatte darüber zu starten, ist befremdlich“, verlautete aus dem Hause E.on. Tatsächlich kann man Kernkraftwerke, die zu einem bestimmten Zeitpunkt stillgelegt werden sollen, nicht einfach so weiterbetreiben. Die Weichen müssen frühzeitig gestellt werden, damit beispielsweise Wartungsarbeiten rechtzeitig erledigt werden können, um einen sicheren Betrieb zu gewährleisten.

Aber dennoch: Selbst schon stillgelegte Kernkraftwerke können reaktiviert werden, wenn der Rückbau nicht schon begonnen hat. Japan hat es vorgemacht. Nach und nach nahm das Land die meisten der wegen der Katastrophe von Fukushima stillgelegten Anlagen wieder in Betrieb. Zum Erreichen seiner Klimaziele setzt Japan auf einen Mix aus Erneuerbaren und Kernkraft.

Von Wolfgang Kempkens