Wenn die Welt zusammenbricht
Wenn private Probleme die Arbeit beeinträchtigen, herrscht vor allem Hilflosigkeit. Der Weg vom „Ich kann nicht mehr“ zum „Ich schaffe es“ ist häufig weit.
Nichts klappt mehr, gar nichts. Die Unterlagen auf dem Schreibtisch wachsen zu Gebirgen, den jüngsten Besprechungstermin hat Wolf S. verschwitzt und mit seinen Kollegen rasselt der junge Elektroingenieur auch aneinander. Was ist los? Der 37-Jährige hat private Probleme. Er will sich nichts anmerken lassen – aber erfolgreich ist er damit nicht. Langsam werden seine persönlichen Sorgen zu einem Problem für die ganze Abteilung. Das spürt er, obwohl er völlig neben der Spur ist. Einen Ausweg weiß er nicht.
Privatprobleme sind Alltag in deutschen Büros und Produktionshallen. Doch niemand hat ein Patentrezept. Privates muss privat bleiben. Was soll man auch tun? Der aus dem Lot Geratene soll sich selbst wieder ausbalancieren oder sich an einen Psychiater, die Telefonseelsorge oder seinen Pfarrer wenden. Bietet das öffentliche soziale Netz nicht genügend Hilfe?
Nicht immer. Die Suizidquote zeigt es. Jährlich wissen rund 12 000 Männer und Frauen keinen anderen Ausweg mehr, als ihrem Leben ein Ende zu machen. Und das ist nur die offizielle Statistik und nur die schrecklichste aller Möglichkeiten, eine Lösung für ein Problem zu finden. Häufig allerdings kommt der Körper dieser „Lösung“ zuvor: 80 000 Menschen sterben jährlich an einem Herzinfarkt, noch einmal 10 000 mehr an einer Gehirnblutung. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden in Deutschland vier Mio. Menschen an einer depressiven Störung – ein Problem mit volkswirtschaftlichen Dimensionen.
„Ich muss bereit sein, in einer kritischen Situation zu helfen“
Am Anfang stehen oft private Nöte. Fast alle ufern früher oder später aus und zeigen im Beruf negative Wirkung: Die Pillenschachtel oder der Flachmann im Schreibtisch, Antriebslosigkeit oder mangelnde Selbstkontrolle bei Konflikten, Fehlzeiten. Die Liste der Versuche, das persönliche Elend zu vertuschen oder zu kompensieren, ist so lang wie die Betroffenen hilflos sind.
Die Vorgesetzten sind es nicht minder. Natürlich sind sich viele Chefs der Fürsorgepflicht gegenüber ihren Mitarbeitern bewusst. Sebastian Küster etwa, Vorstand der Online-Zeitung ovivo.de in Berlin, sagt: „Wenn ich will, dass ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin meinem Unternehmen in einer kritischen Situation hilft, muss ich auch bereit sein, ihm oder ihr in einer kritischen Situation zu helfen.“ Auch Horst Persin, Marketing-Vorstand bei der Softwareschmiede Shuttlesoft AG im Hessischen Bad Camberg, betont: „Bei uns ist das Motto ,Das höchste Kapital eines Unternehmens sind seine Mitarbeiter` keine hohle Floskel.“ Einzelgespräche, „die bewusst in einer zwanglosen Atmosphäre außerhalb des Unternehmens geführt werden“, sollen den Freiraum schaffen, „die Probleme in Ruhe und ohne Angst um den Arbeitsplatz zu lösen. Man ist nicht nur Beistand, sondern wenn nötig auch Therapeut“.
Beim Informatik- und Datentechnik-Dienstleister Midat AG in Potsdam laden die Teamchefs regelmäßig zu „Nach-Feierabend-Runden“ ein, an denen auch die jeweiligen Ehe- und Lebenspartner teilnehmen. Geschäftsführer Uwe Fenner hält das vor allem für die Berufseinsteiger zwischen 20 und 30 Jahren, die sich „beruflich und privat in einem Selbstfindungsprozess befinden“, für wichtig. Ähnlich sieht es auch Herbert Sternberg, Vorstandsmitglied der Media Kreditbank in Frankfurt. „Globalisierung und Wachstum führen zu einem Defizit an sozialen Kontakten in den Unternehmen. Wir sind aber zunehmend auf Teamwork angewiesen, wenn unser System funktionieren soll. Deshalb muss es eine Stelle im Unternehmen geben, an die sich der Mitarbeiter auch mit seinen privaten Problemen wenden kann. Diese Anlaufstelle sind die Vorgesetzten.“
Doch wie realistisch ist das? Zwischen den Hochglanz-Leitbildern der Unternehmer und dem tatsächlichen Führungsstil liegen oft Welten. „Wie lange“, fragt die Gütersloher Personalberaterin Elke Schumacher, „kann man/frau die Gesprächsbereitschaft zu allen Mitarbeitern in der Praxis durchhalten?“ Erwin Staudt, Chef von IBM-Deutschland, sagt: „Ich bin nicht überfordert, für meine Mitarbeiter und meine Kunden da zu sein.“ Man glaubt es dem charismatischen Staudt. Außerdem kann der IBM-Chef auf eine institutionalisierte Sozialberatung verweisen. In Groß-Unternehmen ist das eine Selbstverständlichkeit.
Aber nicht jeder Manager fühlt sich der Herausforderung „privates Mitarbeiterproblem“ auch persönlich gewachsen und organisatorische Hilfsinstrumente haben bei mittelständischen Unternehmen Seltenheitswert. Einige Firmenchefs geben deshalb zu, dass sie als allgegenwärtige Mentoren und Coaches nicht zur Verfügung stehen. Jochen Wiechen, Geschäftsführer beim Venture Capital-Unternehmen Martlet in Berlin, weist auf „die Kehrseite des allgemeinen Verständnisses“ hin. Im Ergebnis habe „jeder sein eigenes Päckchen zu tragen und muss irgendwann auch wieder die Kurve kriegen. Das Geschäft muss eben laufen.“ Ähnlich sieht es Uwe Lucius, Geschäftsführer der C-Concept Soft- und Hardwarelösungen GmbH in Mainz: „Solange das Problem kurzfristig lösbar ist, braucht sich kein Mitarbeiter Sorgen um seinen Arbeitsplatz zu machen.“ Dabei lässt er aber nicht nur offen, was „kurzfristig“ heißt, sondern nennt es auch „sehr gefährlich, den Therapeuten zu spielen“. Es könne sehr schnell dazu führen, „dass man als Chef mehr Zeit für die Lösung privater Probleme der Mitarbeiter aufbringt als für das Geschäft.“
Ob die Mitarbeiter mit mehr oder weniger Verständnis für ihre privaten Probleme rechnen können, hat nach Erfahrung der Gütersloher Personalberaterin Schumacher auch viel mit der Branche zu tun. In der technikorientierten Investitionsgüterindustrie sieht sie eher eine Präferenz für distanzierte Logik, in der eher verbraucherorientierten Welt von Handel und Dienstleistung mehr eine Präferenz für Mitgefühl.
Aber können Mitarbeiter mit privaten Problemen von ihren Kollegen Hilfe erwarten? Der Berliner Startup-Helfer bmp hat bereits einen Schritt in diese Richtung gemacht. Bevor private Probleme auch betriebswirtschaftliche Dimensionen erreichen, wird durch individuelle Absprachen Einhalt geboten. Personalchefin Sabine Drenkhahn: „Der Vorgesetzte gewährt zwei Tage ‚Bereinigungsurlaub“. Reicht das nicht aus, vereinbaren wir für die Dauer des Problems eine unbezahlte Freistellung. Manchmal reicht ja auch schon eine Verlagerung der Arbeitszeit.“
Wer sich am Arbeitsplatz umschaut, registriert meist Ellenbogeneinsatz, Stuhlbeinsägen, Intrigen und Mobbing. Die Kraft, für einen Kollegen die eigene Hilfsbereitschaft zu mobilisieren, reicht da oft nicht mehr aus.
Bestsellerautor Jürgen Hesse, Psychologe und Gründer der Berliner Telefonseelsorger, sagt: „Wenn Sie ein privates Problem haben, halten Sie am Arbeitsplatz besser den Mund. Ihr Chef ist nicht wirklich Ihr Freund und auch gegenüber den Kollegen besser kein Wort. Eingestandene Schwächen und Probleme kommen im ungünstigen Fall wie ein Bumerang zurück.“ Deshalb ist es besser, Profis als Helfer in der privaten Not zu kontaktieren. Doch auch sie unterliegen der Gefahr, wie Personalberater Stefan Müller aus Reutlingen meint, „sich in psychologischem Halbwissen zu verheddern und daraus Ratschläge abzuleiten, die dem Ratsuchenden nicht immer helfen.“
„Paid friends“, Netzwerke und Sport sind nach Überzeugung der Kölner Personalberaterin Anja Kolberg Mittel, wenn private Probleme im Alleingang nicht unlösbar scheinen. Wovor sie und ihre Kollegen warnen, ist der Lösungsweg, den ihrer Beobachtung nach Ingenieure am liebsten wählen: Zähne zusammenbeißen. „Heute machen Menschen Karriere, die durch Fach- und Sozialkompetenz glänzen. Nur wer privat glücklich ist, wird auch langfristig beruflich erfolgreich sein.“ Dafür, wie man privat glücklich wird, gibt es allerdings kein Patentrezept.
Jedes geschäftliche Telefonat wird zur Tortur, wenn die Gedanken sich nicht von dem privaten Problem lösen können.
Sicherlich die schlechteste aller Lösungsmöglichkeiten: Drogen schaffen nur vorübergehend Erleichterung, das Erwachen wird um so ernüchternder.
Sozialberatung
Bayer AG stellt Kontakte her
Wer bei der Bayer AG arbeitet, hat Glück, wenn er im Unglück ist. Zumindest die Mitarbeiter am Hauptstandort Leverkusen haben bei einem privaten Problem die Möglichkeit, sich an eine institutionalisierte Sozialberatung zu wenden. Der Chemiegigant mit weltweit 120 000 Betriebsangehörigen stellt Kontakte zu öffentlichen Schuldnerberatungen, zu Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern oder auch zu psychologischen Beratungsstellen her.
„Alles streng vertraulich“ und ohne Kosten, wie Unternehmenssprecher Günter Forneck betont. Termine mit der Sozialberatung können jederzeit per Intranet angemeldet werden. Die Sprechstunden sind so ausgelegt, dass Schichtarbeiter, Tagschichtler und Gleitzeitarbeiter in kürzester Frist einen Termin außerhalb ihrer Arbeitszeit wahrnehmen können. „Keiner kann Rückschlüsse auf die Art der Probleme ziehen“, sagt Forneck. Jeder Mitarbeiter wird beim Eintritt ins Unternehmen über diese Zusatzleistungen informiert. Das Unternehmen sieht sie als Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern, Vorgesetzten, Personalabteilung unter enger Kooperation mit dem Betriebsrat, Sozialdienst und den externen Beratungsstellen. Bayer-Sprecher Forneck: „Die Voraussetzungen zur Lösung privater Probleme sind bei einem solch umfangreichen Instrumentenpool grundsätzlich besser als bei den meisten kleinen Unternehmen. Gleich groß ist aber die Verantwortung der einzelnen Vorgesetzten. Sie werden nach sozialer Kompetenz ausgewählt und fortgebildet. Führungskräfte dürfen nicht nur aufgestiegene Spezialisten sein, sie müssen Sensibilität für die Belange ihrer Mitarbeiter besitzen.“ rch
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