„Riesiger, fast unberührter Markt“
„Nichts als die Wahrheit“ oder „Ungelogen“ – was Promi- Schreiberlinge à la Bohlen oder Abdel Farrag können, kann Otto-Normal-User jetzt auch. 20six gibt jedem die Möglichkeit, seine Memoiren, Tagebücher oder Kommentare einem Millionenpublikum zu präsentieren. Die Nachfrage ist groß.
Sicher, die Idee ist nicht ganz neu. Dafür aber ist sie gut! Web-logs, persönliche Journale im Internet, sind in den USA seit Jahren bekannt. Die beiden größten Portale, Blogger.com und Livejournal.com, haben zusammen inzwischen mehr als drei Millionen registrierte Nutzer. In Deutschland haben Anfang März drei Hamburger den neuen Internet-Trend aufgegriffen: Dr. Stefan Glänzer (42), Dr. Christoph Linkwitz (41) und Dr. Stefan Wiskemann (41) gründeten die 20six AG. Der Name leitet sich ab aus der Anzahl von Buchstaben im lateinische Alphabet. Mit ihnen und der Software des Unternehmens kann jedermann Tagebücher oder Kommentarseiten ins Netz stellen. Wiskemann: „Man braucht dann nur noch einen Computer und eine E-Mail-Adresse.“ Glänzer ist überzeugt: „Blogging wird das Publizieren verändern, wie ebay das Handeln verändert hat.“
Die drei Freunde haben es eigentlich nicht mehr nötig, noch zu arbeiten: 1998 hatten sie das deutsche Internet-Auktionshaus Ricardo gegründet, waren zu Helden der New Economy aufgestiegen, hatten ihre Gesellschaft an die Börse gebracht und ihre Anteile an den britischen Konkurrenten QXL verkauft. Wert: 120 Mio. „. Glänzer zog nach London, Linkwitz nach Amsterdam, Wiskemann blieb in Hamburg. Das Trio hielt Kontakt und suchte nach einer neuen Idee. Die kam ihnen vor einem Jahr, als Wiskemann las, dass weltweit täglich 5000 neue Blogs ans Netz gehen, in Deutschland aber nur etwa ein Dutzend. „Ein riesiger Markt, der fast unberührt war“, so Linkwitz. Die drei suchten ein paar Programmierer, entwickelten ein Portal und los ging es. Inzwischen, nach nur sechs Monaten, sind mehr als 15 000 Nutzer registriert, täglich entstehen rund 150 neue Blogs.
Das Prinzip ist simpel: Nach Anmeldung erhält der Teilnehmer kostenlosen Zugang zu sämtlichen Funktionalitäten, sucht sich ein Layout aus und kann losschreiben. 10 MB Speicherplatz bekommt jeder Autor eines Logbuches, verwalten kann er es jederzeit und von überall. „Der Erfolg liegt in der Einfachheit“, sagt Wiskemann. „Innerhalb von zwei Minuten ist die eigene Website im Netz, ohne Download, ohne HTML, ohne technische Kenntnisse“. Die Blogger-Community ist bunt: IT-Studenten, die sich Examens-Stress von der Seele schreiben, Ingenieure, die während eines Brückenbaus in Afrika Tagebuch führen, Reisende, die von ihren Eindrücken in Brasilien berichten, Sterne-Köche, die Rezepte veröffentlichen, und Schülerinnen, die vom ersten Liebeskummer erzählen.
Frischen Rückenwind bekommt das 20six-Konzept durch die Verbindung zum Handy. „Mobileblogging ist die Killer-Applikation“, glaubt Wiskemann. „Wir werden die mobilen Portal-Anbindungen, also Eintragungen via SMS und MMS, ausbauen. „Wenn man keine Telefondose braucht, sein persönliches Online-Journal also vom Strand oder aus den Bergen schreiben kann, ist Weblogging eine fantastische Art zu kommunizieren.“ Ganz neu im Angebot ist das so genannte „Audio-Blogging“. Damit hat der Nutzer die Möglichkeit, Gedanken noch schneller und spontaner auf seine persönliche Website zu stellen. Nachrichten können über jedes Telefon – Festnetz oder mobil – übermittelt werden und stehen direkt auf dem eigenen Weblog als Audio-Datei zur Verfügung. Glänzer: „Der Service ist so unkompliziert wie das Besprechen eines Anrufbeantworters.“
Auf dem deutschen Markt tummeln sich neben 20six rund fünf weitere
Weblog-Anbieter. Zu ihnen gehören M-Blog und Freenet. „Wir sind aber Marktführer“, sagt Wiskemann selbstbewusst. „Und diese Position werden wir ausbauen.“ Mittelfristig will das Start-up-Trio Bezahldienste einführen. So soll benötigter Webspace, der über das Gratiskontingent für jeden Nutzer hinaus geht, kostenpflichtig werden. Das erscheint auch notwendig, will man mit der Geschäftsidee Geld verdienen. Derzeit ist daran nicht zu denken. Noch macht 20six keine größeren Umsätze, den Break-even erwarten die Gründer frühestens Anfang 2005. Glänzer: „Zunächst ist unser primäres Ziel, auch hierzulande vielen Menschen die Freude am Bloggen zu vermitteln.“
JÜRGEN HOFFMANN/sta
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