„Lebensentwürfe wie in den 50er Jahren“
VDI nachrichten, Düsseldorf, 15. 9. 06, ws – Welche Herausforderungen ergeben sich aus den sich verändernden Arbeitswelten? Sind Europas Erwerbsmodelle grenzüberwindend? Auf der 2. Sommer-Universität der Arbeit gingen europäische Wissenschaftler den Fragen nach. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Institut Arbeit und Technik, dessen Wissenschaftlicher Geschäftsführer Matthias Knuth Bilanz zieht.
Knuth: Wie wir aus einer Untersuchung wissen, gibt es in der Tat paradox erscheinende Wahrnehmungsmuster der eigenen Beschäftigungssicherheit. Das würde ich auf das jeweilige Niveau der Arbeitslosigkeit zurückführen: Die Angst vor Arbeitsplatzverlust selbst bei hohem Niveau des rechtlichen Kündigungsschutzes ist umso höher, je risikoreicher es erscheint, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
VDI nachrichten: Wie können sich Menschen unterschiedlicher Länder und Sprachen über nationale Beschäftigungs- und Sozialsysteme verständigen? Kann es ein gemeinsames europäisches Projekt der Arbeit geben?
Knuth: Das Faszinierende am „Sozialen“ in Europa ist, wie ähnliche Probleme mit unterschiedlichen Mechanismen bearbeitet werden und wie die Art, darüber zu reden, noch unterschiedlicher ist. Unterschiede können nicht verstanden werden, wenn Vorträge simultan übersetzt werden oder wenn man sich in einem standardisierten Eurospeak unterhält. In der Sommer-Universität haben wir auf die Fähigkeit der Teilnehmer vertraut, sich nationalitätenübergreifend in Gruppen mit einer gemeinsamen Sprachkompetenz zusammenzufinden oder sich gegenseitig mit Übersetzungen auszuhelfen. Das war die wesentliche Innovation von Duisburg im Vergleich zu Nantes, der ersten Sommer-Universität vor zwei Jahren.
VDI nachrichten: Ist das Denken in europäischen Dimensionen angesichts der weit über den Kontinent greifenden Globalisierung nicht ein überholtes Modell?
Knuth: Wer sein eigenes Land, dessen europäische Eingebundenheit und die Interaktionen der Mitgliedsstaaten auf der europäischen Bühne nicht begreift, wird keinen Ansatzpunkt für Gestaltung finden. Man konnte beobachten, dass sich insbesondere manche Osteuropäer mit interaktiven Konferenztechniken nicht wohl fühlten. Unter Einschluss von Teilnehmern aus arabischen Ländern und aus Mittel- und Ostasien wäre die Herausforderung noch viel größer, größer als wir uns derzeit zu bewältigen zutrauen würden.
VDI nachrichten: Wissenschaft bleibt abstrakt, solange keine Umsetzung erfolgt. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, Wirtschaftsvertreter zur Sommer-Universität der Arbeit einzuladen?
Knuth: Sie waren in großer Zahl eingeladen, in geringerer Zahl anwesend.
VDI nachrichten: Teilzeitarbeit ist laut einer Studie bei Männern in der Regel nicht auf familiäre Ambitionen zurückzuführen. Stehen tradierte Strukturen in Deutschland stärker als anderswo „modernen“ Arbeitszeitmodellen im Wege?
Knuth: Das ist zweifellos der Fall, wenn auch nur im Vergleich zu manchen europäischen Ländern. Das Modell von „Hausfrau“ und „Ernährer“ ist in das deutsche Steuer-, Sozial- und Bildungssystem tief eingeschrieben, und das wirkt, auch wenn sich die Werte vieler Menschen längst gewandelt haben. Aber der Aufschrei, der beim „Elterngeld für Väter“ durch die Republik ging, ebenso wie die Reaktion auf vorsichtige Lockerungsübungen beider Volksparteien beim Ehegattensplitting zeigt, dass Teile nicht nur der deutschen Bevölkerung, sondern auch der politischen Elite in ihren Lebensentwürfen in den 50er Jahren stehen geblieben sind. Insofern ist Westdeutschland – hier muss man zwischen West und Ost differenzieren – eindeutig zurück gegenüber allem, was westlich, östlich oder nördlich von uns liegt.
VDI nachrichten: Brauchen wir europaweit für Wirtschaft und Arbeitsmärkte mehr staatliche Reglementierungen oder mehr Raum für Laissez faire?
Knuth: Die deutsche Reformdebatte ist in genau dieser falschen Alternative gefangen. Freiheit und Regulierung werden eindimensional verstanden in dem Sinne, dass mehr Regulierung weniger Freiheit bedeutet und umgekehrt. Wir brauchen mehr Raum für Initiativen, aber ein Raum ist begrenzt und strukturiert. Ohne wirksame gesellschaftliche Spielregeln gibt es keinen Markt. Das Paradox fast aller Bemühungen um „Deregulierung“ von Wirtschaft und Arbeitsmarkt seit Mitte der 80er Jahre besteht darin, dass der Umfang der „Gesetzesflut“ dramatisch angewachsen ist. Ob Regulierung auch „stärker“ geworden ist, ist schwierig zu beantworten. Sicher ist das Gefühl der „Reglementierung“ gewachsen.
VDI nachrichten: Ist diese Entwicklung umkehrbar?
Knuth: Da bin ich skeptisch. Es ist unvermeidlich, dass ein gemeinsamer europäischer Markt für Waren, Dienstleistungen, Arbeit, Kapital und Ideen einen Mindestbestand an Regulierung braucht. Solange die Nationalstaaten fortbestehen, und dazu gibt es auf absehbare Zeit keine Alternative, haben wir es mit Regulierungen auf mehreren Ebenen zu tun: EU, Nationalstaat, in Deutschland in Teilbereichen auch Bundesländer. Das vermehrt zwangsläufig die Regelungsmaterie und ihre Komplexität.
Ein Beitrag von: