„Exponentielles Wachstum ist nicht realistisch“
VDI nachrichten, Düsseldorf, 27. 4. 07, has – Die Wachstumsraten in hoch entwickelten Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas gehen zwangsläufig zurück, so der Wirtschaftswissenschaftler Norbert Reuter. Seit 1960 beträgt der Anstieg des Bruttoinlandsproduktes jährlich rund 25 Mrd. €. Prozentual wird dieser Zuwachs aber immer geringer. Auch mit Reformen ließen sich nicht wieder so hohe Wachstumsraten wie nach dem Zweiten Weltkrieg erzielen.
Reuter: Die aktuelle Entwicklung ist nicht die Folge der Agenda 2010 oder der Lohnzurückhaltung, sondern das Ergebnis eines normalen konjunkturellen Aufschwungs, der durch die Lohnzurückhaltung eher noch verspätet eingetreten ist. Angezogen haben vor allem neben dem Export die Ausrüstungs- und Bauinvestitionen. Irgendwann müssen Anlagen erneuert, der Verschleiß ausgeglichen werden. Der private Konsum hat mit dieser Aufwärtsbewegung leider wenig zu tun. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung kommt zu dem Resultat, dass die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre sogar 1,2 Mio. Arbeitsplätze gekostet hat.
VDI nachrichten: Das Rheinisch- Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung erwartet für die Stahlindustrie höhere Produktion bei gleichzeitigem Beschäftigungsabbau. Wie passt das zusammen?
Reuter: Das hängt mit der Entwicklung der Produktivität zusammen: Pro Arbeitsstunde steigt durch technischen Fortschritt und organisatorische Veränderungen die Produktion. Kann dieser Produktivitätsfortschritt nicht durch Produktionserweiterung ausgeglichen werden, geht das notwendige Arbeitsvolumen zurück und Entlassungen sind die Folge.
VDI nachrichten: Dann tritt das ein, was Arbeitgeber Entlassungsproduktivität nennen?
Reuter: Wobei ich diesen Begriff nicht gerne verwende, weil er so verstanden werden kann, als seien Entlassungen die Folge zu hoher Löhne. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Unternehmen bei weniger oder gar nicht steigenden Löhnen auf technischen Fortschritt verzichten würden. Eine solche Strategie könnte in Deutschland aber gar nicht gefahren werden, weil die Unternehmen aus Gründen des internationalen Wettbewerbs nicht auf technischen Fortschritt verzichten können und dürfen.
VDI nachrichten: Reichen Innovationen nicht mehr aus, um Wachstum zu erzeugen?
Reuter: Bevor es zum Wachstum kommt, muss das Bruttoinlandsprodukt (BIP) jedes Jahr erst einmal auf dem Niveau des Vorjahres neu produziert werden. Um allein das zu erreichen, müssen laufend neue Produkte auf den Markt kommen, damit Anreize bestehen, auch das zu kaufen, was über den täglichen Bedarf hinausgeht. Wachstum bedeutet aber, dass Jahr für Jahr eine größere Menge bzw. ein größerer Wert obendrauf gesetzt werden muss. Die Frage ist nur, ob ein solches exponentielles Wachstum überhaupt realistisch ist.
VDI nachrichten: Wo sehen Sie Grenzen?
Reuter: Einmal im wachsenden Naturverbrauch, aber auch beim Bedarf. Der steigt offensichtlich nicht ins Grenzenlose. In der Vergangenheit war zu beobachten, dass mit zunehmendem Einkommen die Freizeit und damit die Arbeitszeitverkürzung immer wichtiger wurde. Für viele wird Freizeit wichtiger als zusätzlicher Konsum. Wegen der zunehmenden Unsicherheit des Arbeitsplatzes und der seit Jahren stagnierenden Arbeitseinkommen ist diese Entwicklung erst einmal abgebrochen.
VDI nachrichten: Sind alle Bundesbürger gesättigt?
Reuter: Im oberen Einkommenssektor sicherlich. Haushalte mit Einkommen bis zu 18 000 € im Monat sparen rund 40 %. Die Möglichkeit zu sparen ist bei mittleren und kleinen Einkommen aber deutlich geringer. Die Nettolohn- und -gehaltssumme liegt heute real unter dem Wert von 1991, während die privaten Nettogewinne und Vermögenseinkommen im selben Zeitraum preisbereinigt um knapp 30 % zugelegt haben. Solange die Wachstumsraten relativ hoch waren, blieb auch für die Beschäftigten noch etwas übrig. Das Verteilungsproblem wird bei sinkenden Zuwächsen größer.
VDI nachrichten: Seit wann sinken die Zuwachsraten wieder?
Reuter: Der Zuwachs des BIP ist real seit den 1960er Jahren ungefähr gleich geblieben in einer Größenordnung von rund 25 Mrd. € jährlich. Dieser Zuwachs wird prozentual aber immer geringer. In den 60er Jahren gingen Ökonomen davon aus, dass ein jährliches BIP-Wachstum von 5 % bis 6 % der Normalfall sei. Ein derart hohes Wachstum hat es aber nur kurzzeitig gegeben – in Deutschland wie in anderen Ländern.
VDI nachrichten: Dann sind sinkende Wachstumsraten nicht automatisch die Folge einer schlechten Politik?
Reuter: Genauso sehe ich das. An diesem Punkt würde ich auch die herrschende Wirtschaftspolitik kritisieren mit ihrem Glauben, man könnte durch wie immer geartete „Reformen“ Wachstumsraten erreichen wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Wirtschaftspolitik kann zwar die Höhe der Wachstumsraten etwa durch mehr staatliche Investitionen beeinflussen, aber sie wird nicht den langfristigen Trend brechen können.
VDI nachrichten: Länder mit höheren Wachstumsraten haben auch eine wachsende Bevölkerung. Könnte eine Bevölkerungszunahme den Trend umkehren?
Reuter: Sicher ist Bevölkerungswachstum ein wirtschaftlich positiver Faktor. Man spricht vom extensiven Wachstum. Rechnet man aber pro Kopf, dann sind die Steigerungsraten des BIP in zahlenmäßig wachsenden Gesellschaften auf gleichem Entwicklungsniveau auch nicht größer als in Ländern mit stagnierender Bevölkerung. Das höhere extensive Wachstum in den USA ist die Folge einer starken Zuwanderung und des gigantischen Kapitalimports, der dem Land zu einer Sonderstellung verhilft.
VDI nachrichten: Wie hoch müsste die jährliche Zunahme des BIP sein, um alle Arbeitslosen wieder in Beschäftigung zu bringen?
Reuter: Um es in absehbarer Zeit zu schaffen, bräuchten wir Raten von rund 10 % über mehrere Jahre. Das ist völlig unrealistisch. Wir brauchen allein zwischen 1,5 % und 2 % Wachstum pro Jahr, um das Beschäftigungsvolumen nur zu halten und keine neuen Arbeitslosen zu hinterlassen. Und nur ein Wachstum oberhalb dieser Schwelle schafft neue Arbeitsplätze. Auch Ökonomen, die dem Wachstum positiv gegenüberstehen, räumen ein, dass man über Wachstum allein nicht zur Vollbeschäftigung kommt.
VDI nachrichten: Was schlagen Sie vor?
Reuter: Angesichts der weiter voranschreitenden Produktivität und der realistischen Abschätzung von Wachstumsmöglichkeiten wird es ohne Arbeitszeitverkürzung nicht gehen. Bis in die 60er und 70er Jahre war es Konsens, den Produktivitätsfortschritt durch kollektive Arbeitszeitverkürzung abzufedern. Das ist heute völlig weg.
VDI nachrichten: Was ist der Grund?
Reuter: Der Druck auf die Löhne hat immer mehr zugenommen. Lohnkürzungen sind aber nur schwer durchzusetzen. Arbeitszeitverlängerung bei gleichem Lohn ist aber Lohnkürzung, hört sich nur besser an. Deshalb haben die Gewerkschaften gegenwärtig genug zu tun, Arbeitszeitverlängerungen zu verhindern oder wenigstens zu bremsen. Das Problem der Arbeitslosigkeit wird hierdurch aber noch verschärft, da sich noch weniger Beschäftigte das sinkende Arbeitsvolumen teilen müssen.
HARTMUT STEIGER
VDI nachrichten: Die Wirtschaft boomt wie lange nicht mehr. Zahlt sich jetzt die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre aus?
Reuter: Die aktuelle Entwicklung ist nicht die Folge der Agenda 2010 oder der Lohnzurückhaltung, sondern das Ergebnis eines normalen konjunkturellen Aufschwungs, der durch die Lohnzurückhaltung eher noch verspätet eingetreten ist. Angezogen haben vor allem neben dem Export die Ausrüstungs- und Bauinvestitionen. Irgendwann müssen Anlagen erneuert, der Verschleiß ausgeglichen werden. Der private Konsum hat mit dieser Aufwärtsbewegung leider wenig zu tun. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung kommt zu dem Resultat, dass die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre sogar 1,2 Mio. Arbeitsplätze gekostet hat.
VDI nachrichten: Das Rheinisch- Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung erwartet für die Stahlindustrie höhere Produktion bei gleichzeitigem Beschäftigungsabbau. Wie passt das zusammen?
Reuter: Das hängt mit der Entwicklung der Produktivität zusammen: Pro Arbeitsstunde steigt durch technischen Fortschritt und organisatorische Veränderungen die Produktion. Kann dieser Produktivitätsfortschritt nicht durch Produktionserweiterung ausgeglichen werden, geht das notwendige Arbeitsvolumen zurück und Entlassungen sind die Folge.
VDI nachrichten: Dann tritt das ein, was Arbeitgeber Entlassungsproduktivität nennen?
Reuter: Wobei ich diesen Begriff nicht gerne verwende, weil er so verstanden werden kann, als seien Entlassungen die Folge zu hoher Löhne. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Unternehmen bei weniger oder gar nicht steigenden Löhnen auf technischen Fortschritt verzichten würden. Eine solche Strategie könnte in Deutschland aber gar nicht gefahren werden, weil die Unternehmen aus Gründen des internationalen Wettbewerbs nicht auf technischen Fortschritt verzichten können und dürfen.
VDI nachrichten: Reichen Innovationen nicht mehr aus, um Wachstum zu erzeugen?
Reuter: Bevor es zum Wachstum kommt, muss das Bruttoinlandsprodukt (BIP) jedes Jahr erst einmal auf dem Niveau des Vorjahres neu produziert werden. Um allein das zu erreichen, müssen laufend neue Produkte auf den Markt kommen, damit Anreize bestehen, auch das zu kaufen, was über den täglichen Bedarf hinausgeht. Wachstum bedeutet aber, dass Jahr für Jahr eine größere Menge bzw. ein größerer Wert obendrauf gesetzt werden muss. Die Frage ist nur, ob ein solches exponentielles Wachstum überhaupt realistisch ist.
VDI nachrichten: Wo sehen Sie Grenzen?
Reuter: Einmal im wachsenden Naturverbrauch, aber auch beim Bedarf. Der steigt offensichtlich nicht ins Grenzenlose. In der Vergangenheit war zu beobachten, dass mit zunehmendem Einkommen die Freizeit und damit die Arbeitszeitverkürzung immer wichtiger wurde. Für viele wird Freizeit wichtiger als zusätzlicher Konsum. Wegen der zunehmenden Unsicherheit des Arbeitsplatzes und der seit Jahren stagnierenden Arbeitseinkommen ist diese Entwicklung erst einmal abgebrochen.
VDI nachrichten: Sind alle Bundesbürger gesättigt?
Reuter: Im oberen Einkommenssektor sicherlich. Haushalte mit Einkommen bis zu 18 000 € im Monat sparen rund 40 %. Die Möglichkeit zu sparen ist bei mittleren und kleinen Einkommen aber deutlich geringer. Die Nettolohn- und -gehaltssumme liegt heute real unter dem Wert von 1991, während die privaten Nettogewinne und Vermögenseinkommen im selben Zeitraum preisbereinigt um knapp 30 % zugelegt haben. Solange die Wachstumsraten relativ hoch waren, blieb auch für die Beschäftigten noch etwas übrig. Das Verteilungsproblem wird bei sinkenden Zuwächsen größer.
VDI nachrichten: Seit wann sinken die Zuwachsraten wieder?
Reuter: Der Zuwachs des BIP ist real seit den 1960er Jahren ungefähr gleich geblieben in einer Größenordnung von rund 25 Mrd. € jährlich. Dieser Zuwachs wird prozentual aber immer geringer. In den 60er Jahren gingen Ökonomen davon aus, dass ein jährliches BIP-Wachstum von 5 % bis 6 % der Normalfall sei. Ein derart hohes Wachstum hat es aber nur kurzzeitig gegeben – in Deutschland wie in anderen Ländern.
VDI nachrichten: Dann sind sinkende Wachstumsraten nicht automatisch die Folge einer schlechten Politik?
Reuter: Genauso sehe ich das. An diesem Punkt würde ich auch die herrschende Wirtschaftspolitik kritisieren mit ihrem Glauben, man könnte durch wie immer geartete „Reformen“ Wachstumsraten erreichen wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Wirtschaftspolitik kann zwar die Höhe der Wachstumsraten etwa durch mehr staatliche Investitionen beeinflussen, aber sie wird nicht den langfristigen Trend brechen können.
VDI nachrichten: Länder mit höheren Wachstumsraten haben auch eine wachsende Bevölkerung. Könnte eine Bevölkerungszunahme den Trend umkehren?
Reuter: Sicher ist Bevölkerungswachstum ein wirtschaftlich positiver Faktor. Man spricht vom extensiven Wachstum. Rechnet man aber pro Kopf, dann sind die Steigerungsraten des BIP in zahlenmäßig wachsenden Gesellschaften auf gleichem Entwicklungsniveau auch nicht größer als in Ländern mit stagnierender Bevölkerung. Das höhere extensive Wachstum in den USA ist die Folge einer starken Zuwanderung und des gigantischen Kapitalimports, der dem Land zu einer Sonderstellung verhilft.
VDI nachrichten: Wie hoch müsste die jährliche Zunahme des BIP sein, um alle Arbeitslosen wieder in Beschäftigung zu bringen?
Reuter: Um es in absehbarer Zeit zu schaffen, bräuchten wir Raten von rund 10 % über mehrere Jahre. Das ist völlig unrealistisch. Wir brauchen allein zwischen 1,5 % und 2 % Wachstum pro Jahr, um das Beschäftigungsvolumen nur zu halten und keine neuen Arbeitslosen zu hinterlassen. Und nur ein Wachstum oberhalb dieser Schwelle schafft neue Arbeitsplätze. Auch Ökonomen, die dem Wachstum positiv gegenüberstehen, räumen ein, dass man über Wachstum allein nicht zur Vollbeschäftigung kommt.
VDI nachrichten: Was schlagen Sie vor?
Reuter: Angesichts der weiter voranschreitenden Produktivität und der realistischen Abschätzung von Wachstumsmöglichkeiten wird es ohne Arbeitszeitverkürzung nicht gehen. Bis in die 60er und 70er Jahre war es Konsens, den Produktivitätsfortschritt durch kollektive Arbeitszeitverkürzung abzufedern. Das ist heute völlig weg.
VDI nachrichten: Was ist der Grund?
Reuter: Der Druck auf die Löhne hat immer mehr zugenommen. Lohnkürzungen sind aber nur schwer durchzusetzen. Arbeitszeitverlängerung bei gleichem Lohn ist aber Lohnkürzung, hört sich nur besser an. Deshalb haben die Gewerkschaften gegenwärtig genug zu tun, Arbeitszeitverlängerungen zu verhindern oder wenigstens zu bremsen. Das Problem der Arbeitslosigkeit wird hierdurch aber noch verschärft, da sich noch weniger Beschäftigte das sinkende Arbeitsvolumen teilen müssen.
HARTMUT STEIGER
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