Vom Gummibärchen zum Nervenersatz
VDI nachrichten, Reutlingen, 8. 6. 07, ber – Forscher aus Reutlingen bauen künstliche Nerven nach natürlichem Vorbild. Zudem haben sie nun eine neue Beschichtung entwickelt, die einen verletzten Nerv schneller heilen lässt.
„Für viele Notfälle ist das aber noch nicht optimal“, betonte der Professor, der mit seinem Team an einer neuen Generation von Implantaten arbeitet. Dazu müssen sich die Reutlinger Forscher das Nervenkostüm genauer angucken.
Nerven haben große Ähnlichkeit mit elektrischen Kabeln. Auch sie leiten Impulse – oft über 1 m weit, etwa vom Rückenmark bis in den großen Zeh. Sie baumeln nicht einzeln im Körper herum, sondern bündeln sich in „Kabelbäumen“ oder verzweigen sich millionenfach. Nervenfasern sind wenige mm dicke Röhren mit mehrlagiger Isolierung und einem komplizierten Innenleben.
„Auf die Füllung kommt es an. Wir versuchen, die Natur im Inneren des Nervs zu imitieren“, erklärt der Neurobiologe mit dem durchdringenden Blick, als könnte er die Nerven seines Gegenübers genau erkennen.
Was aber macht die Natur nun besser als eine Hohlröhre? Wenn ein Nerv beschädigt ist, sterben die Nervenfasern – der Fachmann sagt Axone – innen ab, zurück bleiben die Hüllzellen. Diese Hüllzellen sorgen wie Blindenführer dafür, dass nachwachsende Nervenfasern in der Röhre ihren Weg finden, bis sie an einem intakten Stück ankommen, an das sie wieder ankoppeln.
Das funktioniert allerdings nicht, wenn Nerven durchtrennt sind. Dafür entwickelte das Reutlinger Team eine Röhre, durch die sie 800 lange hauchdünne Fäden ziehen. Daran entlang hangeln sich nun die wachstumsfreudigen Axone, die aus dem Nervenstumpf sprießen, ohne die Orientierung in der Hülle zu verlieren. Zusätzlich schickt Schlosshauer Hilfszellen mit auf die Bahn, sogenannte Schwannzellen, die sich später als Mantel um die blanken Fasern wickeln. In Zellkulturversuchen klappt das bereits.
Noch besser vollzieht sich die Heilung, wenn sich in der Umgebung der Nerven Blutgefäße befinden, die den Prozess mit Nährstoffen versorgen. „Um den Nerv herum und innen drin sehen wir ganz viele Blutgefäße“, erklärte Schlosshauer.
„Eine Zelle, die von der ersten Sekunde an atmet, verbraucht Nährstoffe, Müll muss abtransportiert werden, nur so kann die Regeneration funktionieren“, so der Neurobiologie.
Mit einer speziellen Beschichtung der Nervenimplantate soll die Blutgefäßbildung angestoßen werden. Das Material, das Blutgefäße anlockt, ist schon seit 100 Jahren aus der Küche bekannt: technisch veränderte Gelatine als Hülle für den Ersatznerv – eine Art Tortenguss, in dem die Gefäße rasch wachsen. „Wir sind eine der ersten Arbeitsgruppen, die mit Gelatine arbeiten“, sagt Lars Dreesmann aus dem Forscherteam nicht ohne Stolz.
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„Das Gummibärchen wird zum Medizinmann“, nennt Schlosshauer das. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Gelatine ist chemisch gesehen ein Biopolymer, das aus tierischem Kollagen gewonnen wird. Materialwissenschaftler haben mit der Verbindung im Reagenzglas so lange „gespielt“, bis ein quervernetztes, schwammartiges Polymer herauskam, das in Vorversuchen in der Petrischale eine biologische Aktivität zeigte.
Inzwischen sind die Forscher schon einen Schritt weiter. Tests mit Hühnereiern ließen nach wenigen Tagen ein zartes Netz aus Blutbahnen im Eiweiß erkennen. Doch bis zum Einsatz im Patienten in ein paar Jahren, sind die Forscher sich sicher, werden sie die Nerven nicht verlieren. K. SPILOK/ber