Ohne Stahlrohre kein Bauhaus, keine Moderne
Kilometerweise Akten, Millionen von Fotos, tausende Museumsstücke – das Firmenarchiv der Mannesmannröhren-Werke, ein Abbild deutscher Stahl- und Montangeschichte, zieht um.
Der Mann sprüht vor Energie. „Sehen Sie, hier, das Kanzler-Set.“ Horst A. Wessel wieselt durch den Keller, vorbei an Stapeln von Kartons und steuert auf eine alte Glasvitrine zu. Er hebt ein rechteckiges Holztablett heraus. Darin: ein Brieföffner, eine Vase, ein Gefäß für Briefklammern, eine Schale für Stifte und ein Aschenbecher. Nicht schön, aber originell, alle Teile sind aus Mannesmannröhren geformt. Willy Brandt hat es bekommen, und Helmut Schmidt auch. Wie sieht‘s mit Schröder aus? Wessel lacht: „Wenn er das Mülheimer Werk besucht, erhält auch er ein Gastgeschenk.“
Der Historiker eilt weiter. „Hier ist ein Fahrrad, ebenfalls aus Mannesmannröhren. Und hier der Text für die Röhrenhymne. Sie stammt von Klaus Doldinger. Er hat bei uns eine Ausbildung gemacht. Sehen Sie, hier, ein Film über Mannesmann, Stählerne Adern. Er hat 1997 den Grand Prix für den besten Industriefilm der Nachkriegszeit bekommen. Toll, nicht?“ Wessel strahlt seinen Besuch an.
Seine Begeisterung ist ansteckend; plötzlich wird Geschichte lebendig. Der Keller am Düsseldorfer Rheinufer füllt sich mit den Geistern vergangener Epochen, und dann markieren Namen ganze Entwicklungen.
Reinhard und Max Mannesmann stehen für die Blütezeit der Gründerjahre, als mit der Revolutionierung der Stahlproduktion auch der Lebensstil umgekrempelt wurde. Denn mit den nahtlosen, federnden Stahlrohren gab es nicht nur eine Welle neuer Entwicklungen in der Auto- und Fahrradindustrie. Auch die Möbelbranche profitierte vom Mannesmann-Rohr. Ohne Stahlrohr kein Bauhaus, keine Moderne.
Hermann Winkhaus, Egon Overbeck, Marcus Bierich und Günter Vogelsang – das ist Nachkriegszeit, boomende Montanindustrie, Wirtschaftswunder. Es waren die Jahre, in denen die Kumpel an Rhein und Ruhr den Reichtum der Bundesrepublik erwirtschafteten und nebenbei auch manch soziale Errungenschaft erkämpften, wie etwa die Mitbestimmung.
Werner Dieter markiert den Strukturwandel im letzten Jahrzehnt. Hundert Jahre nach seiner Gründung investierte der Stahlriese in eine neue Technik – den Mobilfunk. Und avancierte schnell zum Marktführer der Branche.
Heute gehört die Mannesmann AG zur Vodafone Gruppe. Die sogenannten „Engineering- und Automobilbereiche“ sind jetzt bei der Siemens AG, die Röhrenwerke (neudeutsch: Tubes) verkaufte man an die Salzgitter AG .
Damit muss auch das Mannesmann Archiv umziehen, nach Mülheim a.d. Ruhr, in eine alte Schule neben dem Werksgelände der Tubes. „Man kann sagen, dass es zu seinen Wurzeln zurückkehrt“, sagt Horst A. Wessel, seit 1983 Leiter des Mannesmann Archivs, denn im Mülheimer Stadtteil Styrum werden seit 1877 Stahlröhren produziert.
Seit Anfang März sind Wessel und seine vier Mitarbeiter mit dem Sortieren und Sichten, Verpacken und Auspacken beschäftigt. Jeden Tag fahren zwei LKW vom Rhein an die Ruhr, rund 20 000 Kisten werden insgesamt transportiert. 100 000 DM kostet der Umzug bei dem 10 km Akten, drei Mio. Fotos und 10 000 Filme und zahlreiche Museumsstücke – wie etwa das Kanzlerset – den Standort wechseln.
In ihnen findet sich nicht nur die Geschichte der Mannesmannröhren-Werke hier ruht ein großer Teil der Stahlgeschichte Deutschlands. Da Mannesmann Zug um Zug auch die Phoenix- und die Poensgen-Werke übernahm sowie Teile der Thyssen-Röhrenwerke integrierte, wanderten auch die Archive dieser Unternehmen in den Keller am Rheinufer. Das Gleiche gilt für die Unterlagen großer Maschinen- und Anlagenbauer wie Sachs, VDO, Demag oder Krauss Maffei.
Ende April soll der Umzug abgeschlossen sein. Mitte Mai – zum bundesweiten „Tag des Archivs“ – wird das Haus seine Pforten öffnen. „Bei uns kann jeder forschen“, sagt Wessel, „nicht nur Konzernangehörige. Bei uns recherchieren Schüler, Studenten und Wissenschaftler.“
Pro Jahr kommen etwa rund 200 Wissenschaftler aus aller Welt hierher. „Meist Historiker“, sagt Wessel, „aber Architekten und Designer sind auch darunter. “ Sie interessieren sich vor allem für die Pläne von Peter Behrens, dessen Verwaltungsgebäude Meilensteine für die Büro-Architektur setzte.
Was gehört in ein Archiv? Wessel, mittlerweile wieder ins Büro zurückgekehrt, setzt sich gerade. „In ein Archiv gehören alle Akten und Dokumente eines Hauses, die für den laufenden Betrieb nicht mehr wichtig, aber für das Unternehmen und die wissenschaftliche Forschung von Bedeutung sind“, doziert der Wissenschaftler. Zu diesen Dokumenten zählt er Patentschriften und Verträge ebenso wie Werksfotos, Werbe- und Imagekampagnen, Materialien aus den Entwicklungs- und Forschungsabteilungen, Daten über die Sanierung von Altlasten und Unterlagen aus den Personalabteilungen wie zum Beispiel Tarifverträge, aber auch Personalakten. Wessel hat neben seiner Angestellten-Tätigkeit eine Professur für Wirtschaftsgeschichte an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität inne.
„Gerade in den letzten Wochen, in denen viele Abteilungen aufgelöst wurden, haben wir viele neue Unterlagen bekommen“, erzählt der Archivar, „nur die Betriebsräte sind zurückhaltend.“ Sie fürchten, so bedauert Wessel, dass Einsicht in alte Unterlagen Ausblick auf künftige Strategien geben könnte. Letztlich aber hat die Zurückhaltung der Gewerkschafter eine andere Konsequenz: In Fragen der Sozialgeschichte ist das Archiv nicht so reichhaltig, wie es vielleicht sein könnte.
Nicht alle Unterlagen sind sofort einsehbar, das öffentliche Archivgesetz sieht eine Sperrfrist von 30 Jahren vor. So dürfte noch manche Überraschung in Mülheim versteckt sein. Beispiel Parteispenden: Der ehemalige Vorstandsvorsitzende Egon Overbeck, 1988 zu einer Geldbuße wegen nicht korrekt verbuchter Parteispenden verurteilt, vermachte seine Unterlagen dem Archiv. Doch bis zum Jahr 2018 bleiben die Akten verschlossen, dann erst sind sie für die Öffentlichkeit zugänglich. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass die Geschichte der Bundesrepublik nicht neu geschrieben werden muss.
Wie nützlich und hilfreich ein gut geführtes Unternehmensarchiv ist, hat sich in den letzten Monaten gezeigt. Seit die Bundesregierung das Gesetz zur Entschädigung von Zwangsarbeitern verabschiedet hat, habe er rund 800 Anfragen erhalten, erzählt Wessel, mit der Bitte, eine für die künftige Entschädigung notwendige Bescheinigung über die im Unternehmen geleistete Zwangsarbeit auszustellen. „Gerade für die Töchterunternehmen haben wir vieles rekonstruieren können“, sagt Wessel. Der Stolz des Fährtensuchers blitzt in seinen Augen: „Man muss nur wissen, wo man suchen muss.“
In den Röhrenwerken hingegen gab es einen Konzernbeauftragten für die ausländischen Arbeitskräfte, den Oberingenieur Thelen. Seine Berichte über Verpflegung und Unterbringung der Zwangsarbeiter – einschließlich der Kommentare des Vorstandes – sind bis heute in den Akten.
„Thelen und seinen Vorgesetzten war klar, dass gute Verpflegung und Betreuung sowie faire Behandlung die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer erheblich steigern würde“, sagt Wessel, „immerhin bestand damals knapp ein Viertel der Belegschaft aus Fremdarbeitern. Da konnte man sich keine Unzufriedenheit leisten.“
Dies ist eins der wenigen Male, dass der Archivar nicht in der Wir-Form spricht. HELENE CONRADY
Rohre
Revolutionäre Erfindung
Nahtlose Rohre herzustellen war der Traum fast aller Stahlproduzenten im ausgehenden 19. Jahrhundert. Es dürfte der Ausschuss bei der Feilenproduktion gewesen sein, der den Anstoß für die „geniale Erfindung“ von Reinhard und Max Mannesmann gab.
Feilen wurden damals mit einem sogenannten Reeler, einem Glättwalzwerk mit schrägstehenden Walzen, geglättet. Dabei entstanden Risse und Hohlräume innerhalb des Eisenstückes. Die Brüder Mannesmann führten das auf das Schrägwalzen zurück und begannen Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts gezielt mit der Schrägwalztechnik zu experimentieren. „Man muss es als planvolles Probieren bezeichnen“, so Horst A. Wessel, „die beiden haben die Sache theoretisch nicht durchschaut.“ Wissenschaftlich geklärt wurde das Verfahren erst Mitte des 20. Jahrhunderts.
Das erste Patent wurde 1886 erteilt. Fortan hießen nahtlose Stahlrohre Mannesmannrohre – zum Ärger der Konkurrenz, die nach einer Weile nachzog und ebenfalls nach dem Mannesmann-Verfahren nahtlose Stahlrohre herstellte. HC
Architektur
Vorbildliche Architektur
Das Verwaltungsgebäude der Mannesmann AG am Düsseldorfer Rheinufer, errichtet zwischen 1910 und 1912, war richtungweisend für die Büroarchitektur. Alle Büros liegen an den Außenseiten des Gebäudes und verfügen über gleich große Fenster. Eine für damalige Verhältnisse bemerkenswerte Lüftungsanlage saugte Frischluft aus einer nahe gelegenen Grünfläche, die verbrauchte Luft wurde in die Korridore geleitet.
Architektur und Inneneinrichtung stammen von Peter Behrens, der auch die Bauleitung übernahm. Er verzichtete bei der Konstruktion des Gebäudes auf tragende Mauern, und errichtete den Bau auf einem offenen Pfeilersystem. Dadurch sind die Wände flexibel, die Raumgröße lässt sich nach Bedarf verändern.
Zum Team des Expressionisten Behrens gehörten Walter Gropius, Adolf Meyer, Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe. Er lernte bei einem Besuch der Mannesmannröhren-Werke in Düsseldorf-Rath die nahtlosen Rohre kennen – und schätzen. Sie sind Konstruktionselemente seiner stilbildenden Freischwinger. HC
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