Millionendeal am Südhang
vorfristig, freiwillig und gemeinsam. Acht Jahre ist das nun her – verschlechtert hat sich dabei keiner, und keiner zog auch wieder weg.
Die Wintersonne meint es gut an diesem Tag. Wer Zeit hat, schwingt sich aufs Rad, Kinder toben einen Weg entlang, eine Frau hängt Wäsche auf. Andere buddeln im Garten. Beschauliche Geschäftigkeit liegt über dem Dorf. Einem Dorf, das eigentlich keins mehr ist.
Auch Marianne Lorenz spart sich noch den Hut, als sie mit Einkaufstaschen die Stufen zum Platz des Bergmanns heraufsteigt. Letztes Jahr ist sie 80 geworden, hatte also ein gerüttelt Maß Leben hinter sich, als sie vor acht Jahren noch einmal umzog. Ja, sicher sei auch sie gegen den Umzug auf den Südhang gewesen, gesteht sie. „Wer anfangs nicht?“ Ein Leben lang arbeitete sie auf den Feldern um Großgrimma, was sollte sie nun in der Stadt?
Rückblende: Herbst 1991. Im Dorf fliegen die Fetzen. Die 900 Einwohner von Großgrimma scheinen rettungslos entzweit. Eine Bürgerinitiative macht mobil gegen die drohende Abbaggerung des Dorfes, stellt Protestschilder auf, wie man sie heute im sächsischen Heuersdorf oder dem brandenburgischen Horno sieht. Nicht nur die Luft brennt auf dem Sportplatz fackeln Eiferer gar Fahnen des Kohleunternehmens Mibrag ab.
Und in all dem Feuer verbrennt sich auch Sabine Meinhardt den Mund. Die junge Frau ist in Großgrimma geboren, wuchs hier auf, die meisten kennen sie noch als Dreikäsehoch. Und nun zieht sie durch die Gassen, um die Leute zu bewegen, eben dieses Dorf aufzugeben. „Lasst uns umsiedeln – gemeinsam, freiwillig und vorfristig“, wirbt sie.
Für viele im Ort, auch manchen, der selbst in der Kohle arbeitet, begeht sie damit schlicht Verrat. Doch Meinhardt, die 1990 zur Bürgermeisterin gewählt worden war, ist weder naiv noch von den Bergbaumanagern bestochen, wie mancher anfangs zetert. Dennoch preist Bruce de Marcus, Chef der von zwei US-Konsortien geführten Mibrag, sie heute gern mal als seine „wichtigste Verbündete“. Denn die Gesellschaft schürft jährlich um die 20 Mio. t Kohle in ihren Tagebauen. Und dies möchte man gern noch 35 Jahre lang tun, gesteht Produktionsdirektor Horst Schmidt. Es werden weitere Orte dran glauben müssen. Gerade bereitet man den neuen Tagebau Schwerzau vor, verrät der Bergbauingenieur: „Auch er übrigens benannt nach einem umgesiedelten Dorf.“
Wird Sabine Meinhardt von den Kohlemanagern hofiert, lacht sie meist still hinter ihrer dunklen Brille. Später wird sie lebhaft: „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die uns die Millionen für die Umsiedlung freiwillig gegeben haben¿“
In der Tat, es waren Millionen, 94 Mio. € insgesamt, die die Kohlefirma am Ende hinblättern musste. Immerhin ging es für die Großgrimmaer um nicht weniger als den Verlust ihrer Heimat. Es konnte also nicht billig werden, sie umzupflanzen. Auch wenn der Südhang des nahen Hohenmölsen „unser bestes Stückchen Erde ist“, wie Bürgermeister Hans Dieter von Fintel süffisant um sie buhlte.
So ging auch bei Lorenzens damals oft nächtelang die Lampe nicht aus. Man saß am Küchentisch und wog bis in den Morgen das Für und Wider ab. Mutter Marianne schwenkte als erste auf Umzugskurs. Eigentlich sei es doch kein Leben mehr im Dorf, warf sie ein. Fast vier Jahrzehnte waren sie nun schon „Bergbauschutzgebiet“, was hieß: Hier wurden nicht die Menschen vor der Kohle geschützt, sondern die Kohle vor den Menschen. Sie durften nicht mehr investieren, bekamen keine Straße geflickt, keinen Anbau genehmigt.
Dann kam die Wende und damit neue Hoffnung. Doch das mächtige Flöz unter Großgrimma war offenbar zu verlockend, der nahe Tagebau Profen ewig hungrig nach Kohle. Die Zukunftssignale blieben auf Rot.
Die einen begannen zu kämpfen, trotzig und selbstbewusst, andere resignierten, erste zogen weg. Das Gros aber erlag nach und nach den Argumenten der Bürgermeisterin. Jeder wusste ja, dass der Bergbau durchaus einigen Wohlstand bescherte. Auch wenn er Felder schluckte, manchmal ganze Dörfer, und der Staub der Tag und Nacht rasselnden Eimerkettenbagger zuweilen den Himmel verdunkelte. „Was glauben Sie, weshalb hier alle braune Augen haben“, spöttelt Sabine Meinhardt. Dennoch schien es ihr irrwitzig, gegen die Kohle vorzugehen.
Doch zumindest wollte man das Beste für sich und seine Kinder herausholen. Das sah auch Walter Grube so, selbst Bergmann, doch lange skeptisch, was die Umsiedlung betraf. Wusste doch jeder, wie man früher Orte evakuiert hatte. Noch heute leben ganze Dorfgemeinschaften in einem großen Plattenbaublock am Rande einer Kleinstadt. So wirkte er tief unentschlossen, als er an einem kalten Januartag 1996 auf seinem angejahrten Hof über die Zukunft nachdachte.
Mut machte ihm Sohn Fred, auch weil er der Bürgermeisterin vertraute. Sie hatten in Großgrimma zusammen die Schulbank gedrückt, verstanden sich gut. Dann zog er allerdings fort, sah hier keine Perspektive mehr. „35 waren wir in der Klasse, nur fünf leben heute noch auf dem Südhang“, so Sabine Meinhardt mit einiger Schwermut.
Aber wie änderten sich die Zeiten: Eines der letzten Fotos im alten Großgrimma entstand 1995, gestellt für den „Focus“: Die Dorfchefin zieht einen Handwagen voller Knirpse. Und jeder von diesen lebe auch heute noch rund um die Großgrimmaer Straße, dem Hauptweg der alten neuen Dorfgemeinschaft, versichert sie. Für ein neues Foto, zehn Jahre danach, posiert sie nun mit zweien: Madleine König und Lisa Graul. Die eine will Bergingenieurin werden, die andere Medizintechnik studieren.
Es scheint, sie sind sesshaft geworden, wie 88 % aller früheren Großgrimmaer. Gemeinsam, vorfristig und freiwillig siedelten sie tatsächlich Ende November 1997 um. Seither leben sie in 117 Ein- und 12 Mehrfamilienhäusern, keiner zog später wieder weg.
Wie dies gelang, wurde gar Gegenstand einer Diplomarbeit an der Uni Leipzig. Es ging um die „Sozialverträglichkeit bergbaubedingter Umsiedlungen“. Denn was Großgrimma „in langen Pokerrunden“ der Kohle abrang, setzte bundesweit Maßstäbe.
Sie erstritten umfassende Entschädigungen für Hausbesitzer, Landwirte und Betriebe, sie setzten den Neubau von Bürgerhaus, Kindergarten, Bibliothek, Seniorenzentrum durch. Und erreichten, dass nicht nur jeder Eigentümerhaushalt zusätzlich 76 000 € „Umsiedlungszulage“ bekam. Auch die Mieter erhielten 51 000 €. „Man hätte ja auch sagen können, jeder kriegt nur eine Weile eine Mietstütze“, sinniert Sabine Meinhardt. So aber konnte auch Peter Jahr, heute Steiger in Altersteilzeit, noch bauen.
Jenen Tag, als der „knallharte“ Umsiedlungsvertrag mit der Mibrag unterschrieben war, nennt sie den „wichtigsten in meinem Leben“. Habe man die Kohle über den Tisch gezogen? Sie schaut verwundert: „Natürlich sagt erst mal jeder nein, den man fragt, ob er für den Tagebau Haus und Hof opfern will!“ Es wären ja nicht Hochwasserangst oder kriegerische Konflikte, die einen vertrieben, sondern jemand, der damit selbst Kohle machen will¿
Mithin sei eben alles „eine Frage der Rahmenbedingungen“. Selbst scheinbare Kleinigkeiten bekämen da Gewicht – vom Nutzungsausfall für Nebengebäude über den Ersatz für Gemüseparzellen bis zu den Kosten für Notar oder Vermessungsingenieur. Natürlich habe man auch nicht die Verkehrswerte zur Entschädigung herangezogen sondern den realen Ersatzaufwand.
Gut 28,5 Mio. € flossen zudem in die Infrastruktur. Alles trug so zu jenem „Konjunkturboom“ bei, den Hohenmölsens Rathauschef von Fintel am Ende ausmachte. Denn die Gelder seien in der Region geblieben, sie kamen Bauplanern und Energiebüros, Straßenbauingenieuren und Elektrikern zugute, erzählt Sabine Meinhardt bei einem Bummel um den Dorfteich. Auch er wurde neu angelegt, wie auch der Sportplatz: Darauf hätten die Leute besonders bestanden, „ihn sich richtig ertrotzt“. Im SV Großgrimma lebt nun auch der alte Dorfname weiter. Und es ist wohl ein gutes Omen, dass gerade jener Verein, auf dessen Fußballfeld einst die Fahne der Kohle loderte, nun Mibrag-Vorstandschef de Marcus zum Ehrenmitglied machte.
Das alte Großgrimma gibt es übrigens rein körperlich noch, auch wenn es die meisten vom Südhang seit Jahren vermeiden, hier noch mal vorbeizuschauen. Denn das Geisterdorf dient der Bundeswehr heute als Übungsterrain für Häuserkampf. Auch der WDR nutzte es 2004: als schaurige Kulisse für den Spielfilm „Nimm dir dein Leben“.
Daran denkt im heutigen Großgrimma weiß Gott keiner. H. LACHMANN
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