Über die Wupper
Nur wenige kennen Wuppertal, aber fast jeder die Schwebebahn. Mit großem Aufwand wird eines der bekanntesten Wahrzeichen Nordrhein-Westfalens derzeit modernisiert. Noch bis 2004 liegt die längste Baustelle Deutschlands im Bergischen Land.
Die Welt von Hans Lothar Bremer ist exakt 13,3 Kilometer lang, liegt in 8 bis 12 Metern Höhe und schlängelt sich mit ungezählten Kurven quer durch die Stadt: die Trasse der Wuppertaler Schwebebahn. Hier hat der leitende Bauingenieur der Wuppertaler Stadtwerke AG quasi seinen Arbeitsplatz – in dieser Märznacht allerdings einen, um den ihn niemand beneidet: Es ist kalt, Wind kräuselt die Oberfläche der Wupper, Regen weicht den Boden auf und macht das Klettern an der Böschung unweit der Haltestelle Westende zur waghalsigen Partie.
Bremer allerdings wankt nie. Selbst oben auf dem Gerüst, 12 m über der Wupper, schreitet er sicher über die 100 Jahre alten Holzplanken. „Für mich sind solche Einsätze mittlerweile Alltag“, sagt der WSW-Ingenieur. Seit Mai 1998 bekommt die drittälteste Stadtbahn der Welt unter seiner Regie ein modernes Gesicht.
Seither ist die Woche in Wuppertal streng zweigeteilt: in die Tage mit Bahnbetrieb und die ohne. Jeden Freitag, pünktlich um acht Uhr abends, ist Schicht. Dann werden alle 27 Wagen für 57 Stunden in den Endbahnhöfen geparkt und machen die Trasse frei für die Bautrupps. Bis Montagmorgen kurz vor halb sechs, wenn die erste Bahn wieder auf Fahrt geht, muss ein Teil der Trasse samt Stützen ausgetauscht sein.
Nach der Verjüngungskur, die über 740 Mio. DM kosten wird – 80 % davon trägt das Land Nordrhein-Westfalen – wird die Schwebebahn auf den ersten Blick nicht viel anders aussehen als früher. Trotzdem gibt es wesentliche Unterschiede: Die Konstruktion aus 468 Brücken, 66 Anker- und 402 Pendelstützen wird stabiler, denn ab 2004 sollen die Wagen in einem doppelt so dichten Takt fahren wie heute. Auch werden 22 der Kurven entschärft, um Langsamfahrstellen zu reduzieren. Dafür hat die Düsseldorfer „Gesellschaft für Sondermessungen im Ingenieurwesen“ mit einem Modellhubschrauber als Kameraträger die gesamte Strecke photogrammetrisch vermessen und am PC eine optimierte Trasse entworfen.
Vor allem aber soll der stählerne „Tausendfüßler“ leiser werden, denn für viele Anwohner ist die berühmte Bahn ein quietschendes Ärgernis. Die Firma Ortec entwickelte ein Schienenauflager, das die Schallabstrahlung auf etwa die Hälfte reduziert. „Die neue Fahrschiene wird dabei bis auf den Schienenkopf komplett in Gummi gelagert, so dass eine akustisch entkoppelte Lagerung entsteht“, erläutert Bremer. Am ehesten noch wird der Ausbau an den 20 Jugendstil-Bahnhöfen sichtbar. Sie alle werden demontiert und behindertengerecht und komfortabler wieder aufgebaut.
Von all dem ahnte Elke Lasker-Schüler nichts. „Ich bin verliebt in die Schwebebahn“, schrieb die Wuppertaler Dichterin vor vielen Jahren, „verliebt in ihr Eisengewinde und den stahlharten Drachen.“ Wuppertal hängt heute mehr denn je an seiner Schwebebahn. „Sie ist die Seele unserer Stadt“, schwärmte bei der Feier zum 100-jährigen Jubiläum Oberbürgermeister Hans Kremendahl.
Die meisten der täglich über 70 000 Fahrgäste aber sehen in ihr einfach ein schnelles und zuverlässiges Verkehrsmittel. Auch für Thomas Schmid hat die Bahn in dieser Nacht wenig Lyrisches. „Warum geht das nicht schneller?“, ruft der Dienst habende Ingenieur der Stahlbau Lavis GmbH in sein Funkgerät. In den Stunden zuvor haben die Arbeiter ein Hilfsgerüst im Wuppergrund verankert und die Bühne hydraulisch bis unter die alte Brücke gehoben, um das 35 t schwere Stahlteil abzustützen. „Das Besondere an den Plattformen sind wasserbetriebene Teleskope, die aus dem Bergbau stammen und für die Arbeiten an der Schwebebahn angepasst wurden“, erläutert Schmid. Bei herkömmlichen, mit Öl betriebenen Hydraulikzylindern wäre das Risiko, dass auslaufendes Öl die Wupper verschmutzt, zu groß.
Unterdessen ist es ein Uhr nachts. Oben auf der Brücke gehen zwei Schweißbrenner in Betrieb. Milliardenfacher Funkenregen erleuchtet die Baustelle an der Brücke 170 im Stadtteil Elberfeld – ein Silvesterschauspiel mitten im März.
Die Arbeiter haben dafür kein Auge. Auch die wenigen Schaulustigen hat der Regen dieser Nacht schon lange vertrieben. „Protest gegen den Ausbau gibt es wenig“, sagt Bremer. Schließlich sind die Wuppertaler den Lärm der Bahn gewohnt – auch normale Instandsetzungsarbeiten haben stets für Krach gesorgt. Außerdem informieren die Stadtwerke mit Plakaten, Postwurfsendungen und im Internet über jede Phase des Ausbaus.
Mittlerweile sind die 15 m langen Stützenschenkel durchtrennt und müssen im Fundament aus der „Kalotte“, einer Art Kugelgelenk, ausgefädelt werden. Dafür ist schon Stunden zuvor einer der größten Teleskopkräne mit 60-m-Hauptausleger am gegenüber liegenden Ufer in Position gegangen. Das Ausfädeln der Schenkel ist diffizil. „Wir haben wenig Platz hier in der Wupper“, klagt Schmid. Noch enger war es auf der rund 3 km langen Landstrecke durch Vohwinkel und Sonnborn, wo die Bebauung bis dicht an die Fahrtrasse heranreicht.
Nicht nur die Enge macht die Baustelle besonders knifflig. Die Arbeiten müssen unter einer 110-kV-Hochspannungsleitung durchgeführt werden – wegen der Abschaltungen während der Bauarbeiten sind komplizierte Umleitungen notwendig, um die Stromversorgung der anliegenden Wohn- und Gewerbegebiete sicherzustellen. Da meist an mehreren Stellen der Trasse gleichzeitig gearbeitet wird, müssen neue Brücken fast immer in alte Trassenteile integriert werden – eine schwierige Sache, denn der Spielraum beträgt nur wenige Millimeter. Dafür wird die Hilfsplattform mit einem Laser von Zeit zu Zeit vermessen, um zu prüfen, ob sie noch perfekt in der Waagerechten liegt.
An diesem Wochenende geht alles glatt. Nach Entfernen der Stützenschenkel hebt der Kran die alte Brücke und das Joch heraus, später wird das Ganze in umgekehrter Reihenfolge wieder montiert.
Eigentlich sollte der Ausbau zum 100-jährigen Jubiläum am 1. März 2001 fertig sein. Daraus wurde nichts – bis heute ist rund die Hälfte der Stecke erneuert. Voraussichtlich erst 2004 wird die letzte Niete gesetzt und der letzte neue Fahrplan aufgehängt sein. „Bei so einer Sache braucht man eben viel Geduld“, sagt Bremer und zieht die Schultern gegen die Kälte hoch.
Sicher ist nur: Ab Montag gehört die Bahn wieder den Wuppertalern. Ob die nun an alten oder neuen, resedagrün lackierten Stützen vorbeifährt, ist vielen ziemlich egal – auch über die Tatsache, dass die Schwebebahn eigentlich gar nicht schwebt, sondern wie eine umgedrehte Straßenbahn an Schienen hängt, machen sich nur wenige Gedanken: Wo sonst wird man so dicht an Wohnzimmern und Büros vorbei, über Chemieleitungen und Jugendstilbrücken hinweggeschaukelt – so sanft, dass man das Aussteigen fast vergisst?
Von den Bauarbeiten ist dann kaum mehr was zu sehen. Und Hans Lothar Bremer plant längst die Einsätze der kommenden Wochen, immer in der Hoffnung, dass sie noch lange schweben wird, seine
Schwebebahn-Unglück: Fahrt in den Tod
Für die Schwebebahn gibt es viele Superlative. Sie sei das umweltfreundlichste, zuverlässigste und vor allem das sicherste Stadtbahnsystem. Bis zum 12. April 1999 stimmte das auch. An jenem Montagmorgen gegen 5.45 Uhr fuhr ein voll besetzter Gelenkzug bei Streckenkilometer 7 mit rund 50 km/h in eine stählerne Kralle, die nach Abschluss der Bauarbeiten nicht entfernt worden war. Der Wagen entgleiste und stürzte in die Wupper. Fünf Menschen starben, 45 wurden verletzt.
Die Strecke der Schwebebahn besitzt 66 Ankerstützen, die die Last in Längsrichtung tragen. Für die Aufnahme der Temperaturänderung zwischen Sommer und Winter, Tag und Nacht gibt es zwischen zwei Stützen die sogenannte Dilatation – einen Spalt, der die Wärmeausdehnung des Stahls aufnimmt. Die Dilatation muss bei den Bauarbeiten überbrückt werden, um den Fahrwegstrang zu stabilisieren. Diese Überbrückung wird u.a. mit vier „Krallen“ befestigt. Eine dieser Krallen wurde in jener Nacht vergessen.
Im vergangenen September sprach das Wuppertaler Landgericht im Schwebebahnprozess recht milde Urteile: Vier Monteure und der Betriebsleiter der Wuppertaler Stadtwerke wurden freigesprochen. Der Lavis-Bauleiter, der als einziger Nachlässigkeit bei der Kontrolle eingeräumt hatte, erhielt eine Geldstrafe von 14 400 DM, die zwei Stadtwerke-Mitarbeiter, die an diesem Wochenende die Aufsicht hatten, wurden zu Bewährungsstrafen von acht bzw. 20 Monaten und insgesamt 13 000 DM Geldstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hat mittlerweile gegen sechs der Urteile – die Freisprüche für die Monteure und die Bewährungsstrafen für die WSW-Mitarbeiter – beim Bundesgerichtshof Revision eingelegt.
Wie die Kralle vergessen werden konnte, ist bis heute nicht geklärt: Die vier betroffenen Monteure verweigerten über die gesamte Prozessdauer die Aussage. Seit dem Unfall wird die Überbrückung der Dilatation in die Brückenköpfe der Lager integriert und hat somit keinen Berührungspunkt mit dem Fahrzeug mehr – ein Entgleisen wäre heute nicht mehr möglich. Außerdem ist seither eine Probefahrt mit leerem Wagen Vorschrift, bevor die Fahrgäste zusteigen dürfen. cf
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