Tote von Eschede mahnen die Bahn
Der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ verursachte in Eschede ein Inferno. 101 Menschen starben, 119 wurden zum Teil schwer verletzt. Der Staatsanwalt nun zur Ursache: Ermüdungsbruch nach einem Innenriß an einem Radreifen.
Ein Jahr nach der Katastrophe füllen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Lüneburg, Aktenzeichen 161 Js 12212/98, mehrere hundert Ordner. Das beauftragte Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit, Darmstadt, das schon zehn Jahre zuvor auf die Problematik hingewiesen hatte, hält einen Ermüdungsbruch nach einem Innenriß an einem Radreifen für die Unfallursache. Oberstaatsanwalt Jürgen Wigger erklärte letze Woche erstmals: „Damit haben wir den Fehler gefunden.“
Freilich stellen sich noch immer mehr Fragen, als schlüssige Antworten zu finden sind. Eine Reihe von Vorkehrungen hat die Deutsche Bahn (DB) bereits getroffen und weitere werden folgen, wie schon immer neue Sicherungssysteme meist nach Unfällen eingeführt wurden.
Als Ursache der Katastrophe war der gebrochene Radreifen verhältnismäßig schnell ermittelt. Danach stellte sich die Frage nach der Eignung der eingesetzten Radbauart bei derart hohen Beanspruchungen, vor allem aber nach der Prüfung und Überwachung der Räder. Weitaus schwieriger zu erklären sind die Vorgänge, die sich am Gleis abgespielt haben.
Im Januar hatten die Gutachter des Fraunhofer-Instituts außer dem schadhaften Rad auch eine Weiche für das Unglück mitverantwortlich gemacht: Sie sei unter dem Zug „umgesprungen“ und habe die nachfolgenden Wagen in das abzweigende Gleis gelenkt. Die Darstellung wurde indessen von Sachverständigen als unhaltbar zurückgewiesen: Weichen können sich nicht einfach umstellen. Sie sind, solange die Fahrstraße für einen Zug eingestellt ist, mehrfach mechanisch verriegelt und in das Signalsystem einbezogen.
Wenn die Weiche trotzdem umgelaufen ist, fragt sich, wie es geschehen konnte. Welche unvorstellbaren Kräfte durch die hohe kinetische Energie entfesselt wurden, hat der Brückeneinsturz drastisch vor Augen geführt. Die Kräfte wirken jedoch zunächst in Bewegungsrichtung. Selbst wenn alle Verriegelungen zerschlagen wurden, ist nur schwer nachvollziehbar, wie eine geradeaus gestellte Weiche auf Ablenkung gebracht werden konnte. Schlüssige Erklärungen sind an dieser Stelle, an der sich Ursache und Wirkung kaum noch unterscheiden lassen, ungleich komplexer als die Begutachtung des schadhaften Rades.
Während in Frankreich wie auch in Japan Vollräder benutzt werden, hatte die DB diese gegen gummigefederte High-Tech-Räder ausgetauscht, um den Fahrkomfort zu erhöhen. Derartige Räder waren zuvor nur bei Nahverkehrsbahnen üblich, jedoch längere Zeit in IC-Wagen erprobt worden. Nach dem Unfall von Eschede baute die Bahn auf Veranlassung des Eisenbahn-Bundesamts (EBA) wieder die traditionellen Monoblockräder ein.
Katastrophe wird Einsatz neuer Technologien eher behindern
Wenig später zeigte sich die wissenschaftliche Forschung besorgt, die Bahn werde sich nun noch stärker auf bewährte Technologien zurückziehen: „Die Katastrophe von Eschede wird den Einsatz neuer Technologien und Materialien bei der Eisenbahn eher behindern“, hieß es an der TU Berlin. Dort war eben ein Eisenbahnrad aus Faserverbundwerkstoffen entwickelt worden, dessen Chancen die Wissenschaftler nun trotz objektiver Vorteile stark gesunken sehen.
Kurz zuvor hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in Bonn eine Methode vorgestellt, mit der sich Beanspruchung, Verschleiß und Schäden an Laufwerken von Eisenbahnfahrzeugen sowie an Schienen und dem gesamten Gleis in Formeln fassen und damit für jeden Belastungsfall vorausberechnen lassen.
Um der Unfallgefahr durch Sprödbrüche entgegenzuwirken, hatten die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) – ebenfalls als Reaktion auf Unfälle – schon 1996 Güterwagen mit drei unterschiedlichen Systemen von Entgleisungsdetektoren ausgerüstet. Diese Sensoren sprechen auf außergewöhnliche vertikale Beschleunigung an, die auftritt, wenn ein Rad nicht mehr auf der glatten Schiene rollt. Daß beim ICE eine solche Überwachung nicht vorgesehen war, während der Ausfall einer Klimaanlage oder ein voller Behälter des WC-Systems von der Diagnoseeinrichtung erkannt und über Funk gemeldet wird, war nach Eschede auf Unverständnis gestoßen. Die Wissenschaft stützt hier jedoch die Bahn: „Elektronische Überwachung der Radreifen während der Fahrt hätte das Unglück nicht unbedingt verhindert Überprüfung der Räder mit Ultraschall im Stand sei effektiver“, meint Prof. Jürgen Siegmann von der TU Berlin.
Deutsche Bahn vernachlässigte die Überwachung der Technik
Zurecht angeprangert wurde nach der Katastrophe offenbar, daß die zunächst vorgesehenen Ultraschallprüfungen einfach unterlassen wurden, weil sie keine zuverlässigen Ergebnisse geliefert hätten. In der Tat ließen sich mit der abgeschalteten Anlage nur Oberflächenrisse erkennen, nicht jedoch ein von innen ausgehender Riß wie am Rad von Eschede.
Trotzdem liegt hier der entscheidende Fehler: Die Überwachung der innovativen Technik wurde vernachlässigt – sträflich. Wenn sich ein Prüfverfahren als untauglich erweist, kann es nicht einfach ersatzlos gestrichen werden. Gerade der Hochge-schwin-digkeitsverkehr (HGV) lebt von neuer Technik.
Der verhängnisvolle Trugschluß lag im Vertrauen auf grenzenlose Sicherheit des Rad/Schiene-Systems. Das schließlich gebrochene gummigefederte Rad war immerhin vier Jahre lang in Betrieb, es hatte eine Laufleistung von weit als 1 Mio. km und war dabei 500 Mio. bis 600 Mio. Lastwechseln ausgesetzt gewesen. Wäre es regelmäßig kontrolliert und rechtzeitig gewechselt worden, dann wäre Eschede nie mit etwas anderem in Verbindung gebracht worden als mit einer Idylle in der Lüneburger Heide.
ZACHARIAS BOYER/WOP
Die ICE durchfahren längst wieder Eschede – den Ort der größten Katastophe der Deutschen Bahn. Die Trauer um 101 Tote bleibt. Das Trauma und der Schmerz der Überlebenden und Hinterbliebenen ist nicht faßbar. Vernachlässigte Überwachung des ICE ist als Ursache anzuprangern, nicht die Technik selbst.
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