Prüfzyklus für Radsatzwellen drastisch verkürzt
VDI nachrichten, Düsseldorf, 31. 10. 08, wop – Bis in die kommende Woche wird der ICE-Zugverkehr noch eingeschränkt sein, erwartet die Deutsche Bahn (DB). Nachdem sie am 15. Oktober über den Riss in der Radsatzwelle eines ICE-Neigezuges (ICE-T) berichtete, nahm die DB die ICE-T-Flotte vorsorglich aus dem Verkehr, weil das Herstellerkonsortium keine klaren Garantien für die Sicherheit der Achsen abgeben wollte. Experten warnen seit Jahren vor dem Problem.
Ein deutscher Werkstofffachmann machte darauf aufmerksam, dass im Bereich der Korngrenzen des Werkstoffes immer Mikrorisse zu finden seien. Wie die sich während der stoßartigen hochfrequenten mehrachsig-nichtproportionalen Belastung ausbreiten, wisse man nicht.
Wissenschaftler wissen schon lange, dass eine Betriebsfestigkeitsabsicherung bis zu 20 Mio. Lastwechsel noch nicht ausreichend ist. Selbst bei einer Lastwechselzahl von über 1 Mrd. könne eine Werkstoffschädigung noch auftreten (Giga-Cycle-Fatigue) und die Bauteile zum Versagen führen.
Außerdem ist es für Wissenschaftler fraglich, ob die bisher bei der Überprüfung der Bauteilfestigkeit in der Praxis meist angewandte „isotrope“ Betrachtungsweise überhaupt für proportionale veränderte Belastungen und auch in wie weit sie noch für starke nichtproportionale Belastungen (wie hier der Fall) anwendbar ist. Eine „anisotrope“-Betrachtungsweise (Risse wachsen in bevorzugte Richtungen), halten sie hier für sinnvoll.
Die ICE verkehren auf herkömmlichem Oberbau und auf der „festen Fahrbahn“, vormals auch schotterloses Gleis genannt. Welchen Einfluss die hohe Geschwindigkeit und die dadurch auftretenden Kräfte und deren Wechselwirkungen auf die Radsatzwellen bzw. ihren Werkstoff haben, ist zu erforschen. Bauteilkonstruktionen fußen auf Verwendung bzw. Betrieb. Verändern sich u. a. Lastkollektive, kann ein „Sicherheitszuschlag“ nicht ausreichen. Zgraggen: „Dann kann die Lebensdauer des Bauteils kolossal abnehmen.“ Es ist also mehr zu prüfen.
Inzwischen sollen, wie von Grubisic lange gefordert, die Radsatzwellen in wesentlich kürzeren Zyklen überprüft werden. Wie das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) bestätigte, hat die DB Fernverkehr AG nach dem Rissbefund an einer Treibradsatzwelle der Baureihe 411/415 (ICE-T) am 14. Oktober 2008 das Prüfintervall für die mechanisierte Ultraschallprüfung für die Radsatzwellen des ICE-T aus dem Werkstoff „30CrNiMoV12“ von 240 000 km auf 100 000 km gesenkt. Das EBA will damit seiner Betreiberverantwortung (§ 4 Abs. 1 Allgemeines Eisenbahngesetz) gerecht werden. Doch das war dem Eisenbahn-Bundesamt nicht genug:
Das EBA erteilte der Bahn weitere Auflagen: „Seit dem 14. Oktober 2008 müssen die Radsatzwellen der ICE3-Züge aus 34CrNiMo6 bereits nach 30 000 km und ab dem 21. Oktober 2008 die Radsatzwellen der ICE3-Züge aus dem Werkstoff A4T nach 60 000 km Laufleistung auf den Prüfstand – bei Detektionsgenauigkeiten von 2 mm. Zusätzlich müssen alle Radsatzwellen aus den beiden Werkstoffen bis Ende Januar 2009 einmal zur mechanisierten Ultraschallprüfung mit einer Detektionsgenauigkeit von 1 mm.
Hintergrund der Auflagen: Die DB Fernverkehr habe im Zuge der Untersuchungen nach dem Riss an der ICE-Radsatzwelle Rissfortschrittsbetrachtungen vorgenommen. Die Ergebnisse haben das EBA zur Anordnung der kurzen Prüfintervalle veranlasst.
DB-Chef Hartmut Mehdorn sieht sein Unternehmen in der Lage eines Autofahrers, der alle sechs Wochen zum TÜV müsse. Statt nach 480 000 km, so der DB-Konzernchef, müssten die Zugachsen der ICE-T nun alle 30 000 km zur mechanisierten Ultraschallprüfung.
So sehr Mehdorns Groll nachvollziehbar ist, sein Statement lässt stutzen. Einerseits gibt er 480 000 km statt der laut EBA tatsächlich praktizierten 240 000 km an. Darüber hinaus hat das Herstellerkonsortium Radsatzwellen gemäß der Europäischen Normen (EN 13 103 und EN 13 104 – Konstruktions- und Berechnungsrichtlinien für Radsatzwellen) geliefert – so wie es die DB in ihren Ausschreibungen nur verlangen konnte. Laut EBA wurden die genannten Normen im Zulassungsverfahren für die ICE3 und die ICE-T-Züge auch erfüllt.
Prof. Grubisic hält die Normen allerdings für unzureichend: „Für Schwingfestigkeit sind höhere Werte maßgebend“, sagte er. Gerade bei Neigezügen mit höherer Kurvengeschwindigkeit sei die reale Schwingungsbelastung nicht hinreichend abgedeckt. Der Experte rät, sowohl die Auslegung der Radsatzwellen als auch die Wahl der Werkstoffe auf den Prüfstand zu stellen.
Eine stabilere Konstruktion mit weniger hochwertigem Stahl schlägt Grubisic vor, um die Kosten im Zaum zu halten. Wenn man die Belastbarkeit an den kritischen Stellen (vor allem die Kerbwirkung an Rädern, Getriebe und Bremsscheiben) um 15 % erhöhe, erreiche man eine Verdoppelung der Lebensdauer. „Damit wären die extrem teuren Ultraschalluntersuchungen in kurzen Abständen hinfällig“, erklärte Grubisic. Eine jährliche Überprüfung reiche dann aus.
Grubisic regt überdies schon seit Jahren eine Onlinekontrolle der Radsatzwellen an. Diese lasse sich mit wenigen Sensoren bewerkstelligen – und könne Schäden an der Welle unmittelbar nach dem Entstehen erkennen und melden.
Im Falle des im Juli in Köln entgleisten ICE3, in dem mehrere Reisende das Personal auf seltsame Geräusche hinwiesen, hätte eine solche Sensorik ganz sicher zum sofortigen Halt des Zuges geführt. Doch bisher lehnt die DB diesen Vorschlag ab. Vor diesem Hintergrund wirkt es eher befremdlich, wenn Mehdorn nun wiederum verlauten lässt: „Sicherheit hat für uns absoluten Vorrang. Die Deutsche Bahn hat in der Vergangenheit nicht den geringsten begründeten Anlass gegeben, daran zu zweifeln und wird das auch in Zukunft nicht tun.“ W. PESTER/R. ROSSBERG/ P. TRECHOW
Angewandte isotrope Betrachtungsweise bei der Bauteilefestigkeit ist fraglich
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