„Es wimmelt von Zielkonflikten“
VDI nachrichten, Düsseldorf, 11. 8. 06, wop – Die Automobilindustrie entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten zur Schlüsseltechnologie-Branche. Statt Mechanik sind längst Elektronik und Software die Technologietreiber, wie Prof. Dr.-Ing. Hans-Hermann Braess im Folgenden aufzeigt. Sie beschleunigten auch weiterhin den Fortschritt. Eine herstellerübergreifende Standardisierung werde helfen, die Komplexität von Systemen technisch zu beherrschen. Trotz umfassender technischer Assistenz bleibe die Frau oder der Mann am Lenkrad in der Verantwortung, das Fahren werde aber noch sicherer und komfortabler als bisher.
Das Automobil hat sich zum komplexesten Konsumgut unserer Zeit entwickelt. Seine Branche wuchs mit ihren Herstellern, vielfältigen Zulieferern und Dienstleistern weltweit zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige und generierte sich zur Schlüsseltechnologie. Auch wenn es Interessengruppen anders darstellen wollen, die Automobilindustrie markiert die Innovationsspitze. Ein Beleg dafür ist auch die Anzahl ihrer Erfindungen und der erste Rang bei den Patentanmeldungen. Und diese Entwicklungskraft wird beibehalten, dafür sorgt der weltweit harte Wettbewerb.
Mit ihren Innovationen und Produkten bewegt sich die Automobilindustrie im Feld von Markt- bzw. Kundenverhalten, technischem Fortschritt und Amortisation sowie gesetzlichen Standards. Bei den verabschiedeten Vorschriften hat die Politik häufig die technischen und ökonomischen Zwänge für Industrie und Wirtschaft zu einfach bewertet. Aber die volkswirtschaftliche Wirkung der Autobranche ist komplex, ebenso wie die heute von ihr eingesetzte Technologien.
Von Bedeutung ist deshalb die von der EU-Kommission 2005 gestartete Initiative „Cars 21“, die für eine bessere Gesetzgebung sorgen und die die Folgen neuer Gesetze und Verordnungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie abschätzen soll. Wichtig ist dabei auch die Verständigung auf den „Integrated Approach“ in den Bereichen Klimaschutz und Fahrzeugsicherheit.
Autos, bei denen Elektronik und Software in Funktionen und Komponenten keine Rolle spielen, gibt es kaum noch. Darüber hinaus werden immer mehr Funktionen vernetzt, um Fahrzeuge optimal zu gestalten und betreiben zu können. Der in den letzten Jahren geschaffene Technikbereich „Mechatronik“ – er kombiniert Mechanik, Elektrik/Elektronik und Software für technische Aufgabenstellungen – ist hierfür ein markantes Beispiel.
Auch wenn sich mancher zum einfachen Auto zurücksehnt – vor 100 Jahren bestand es nur aus mechanischen Bauteilen -, ohne den umfassenden Technikeinsatz, bei denen die Elektronik heute mit durchschnittlich über einem Drittel an den Pkw-Herstellkosten zu Buche schlägt, wären die zumeist stark gestiegenen Ansprüche der Autokäufer bezüglich Komfort, Sicherheit und Umweltschutz auch nicht annähernd zu erfüllen.
Vor allem mit der Elektronik konnte die Kraftstoffverbrennung verbessert und Katalysatorsysteme eingesetzt und optimiert werden. Dadurch sank beispielsweise die Schadstoffemission der Neufahrzeuge in den letzten 25 Jahren insgesamt um mehr als 95 % und die Dieselpartikel sind heute durch Filter ganz zu eliminieren.
Was der Fortschritt durch Technik mit Entwicklungen wie ABS, Airbag, Rückhalte- und Antischleudersystemen bewirkt hat, erhellt die Statistik. Der Autoverkehr ist deutlich sicherer geworden: Mussten in der Bundesrepublik 1980 noch 13 041 Verkehrstote beklagt werden, meldete kürzlich das Statistische Bundesamt für 2005 mit 5362 getöteten Personen die geringste Anzahl Verkehrstoter seit mehr als 50 Jahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in den 25 Jahren in Deutschland der Bestand von Autos – inklusive DDR – um 20 Mio. auf rund 49 Mio. Stück gestiegen ist.
Die Autos sind in dem Zeitraum sicherer und „individueller“ geworden. Aber mit der extrem gestiegenen Vielfalt an Modell- und Ausstattungsvarianten sowie optionaler Technik hat die Komplexität stark zugenommen. Auch in der Branche, man denke nur an die Just-in-time-Produktions- und Lieferketten. Der Kunde soll sein Wunschfahrzeug weltweit möglichst schnell erhalten. Doch immer komplexere Produkte in kürzeren Zeiten bei zumindest relativ geringeren Kosten zu bauen, heißt die „Kubatur der Kugel“ zu lösen – obwohl die Quadratur des Kreises noch einer Lösung harrt.
Das Dilemma hängt auch damit zusammen, dass es schon in einzelnen Dimensionen der „Kugel“ nur so von Zielkonflikten wimmelt – beispielsweise die Federungsabstimmung, die für den Fahrkomfort weich, für optimale Fahreigenschaften dagegen hart sein muss. Selbst an einfach erscheinenden Bauteilen wie dem Außenspiegel hängen mindestens 15 ganz unterschiedliche Anforderungen.
Ein typisches Beispiel ist das ABS, das den alten Zielkonflikt zwischen kurzem Bremsweg, ausreichender Fahrstabilität und Lenkfähigkeit des Fahrzeugs, nicht zuletzt auf Fahrbahnen mit wechselnder Griffigkeit, in den „Griff“ bekommen hat – mit Elektronik. Die in Deutschland schon sehr gut eingeführten elektronischen Stabilitätssysteme (ESP) vermindern als nächste Entwicklungsstufe Schleuderunfälle ganz wesentlich. Dabei ist wichtig, dass derartige Systeme durchgängig bis in die kleinste Fahrzeugklasse angeboten werden, um die Verkehrssicherheit weiter zu erhöhen.
Ein großer Vorteil elektronischer Systeme ist deren Fähigkeit zur Vernetzung, wodurch völlig neue Potenziale erschlossen werden können. Erwähnt seien Kopplungen von Federung, Lenkung und Bremse zur besseren Beherrschbarkeit besonders schwieriger Fahrsituationen. Mit der noch weitergehenden Integration von Funktionen der aktiven („precrash“) mit denen der passiven („postcrash“) Sicherheit wird der Personenschutz weiter erhöht.
Zukünftige Lösungen um Kollisionen zu vermeiden und den Verkehrsfluss zur verbessern sind ohne Elektronik überhaupt nicht realisierbar, beispielsweise der Informationsaustausch sich begegnender Fahrzeuge, wie er derzeit entwickelt wird.
Ein weiteres aktuelles Beispiel, wie ein Zielkonflikt gelöst wird, ist der Hybridantrieb: Verbrennungsmotoren und Elektroantriebe haben unterschiedliche Stärken. Ein intelligentes Zusammenspiel soll nun den Kraftstoffverbrauch reduzieren und die Fahrleistungen dennoch beibehalten. Damit dies in möglichst vielen Fahrsituationen erreicht werden und ein Käufer sein Wunschmodell mit Benzin-, Diesel- oder Hybridantrieb erhalten kann, sind noch umfangreiche, nicht zuletzt herstellerübergreifende Entwicklungen erforderlich. Dabei müssen die Steigerungen des Fahrzeuggewichtes – durch zusätzlichen E-Motor/Generator, Batterien etc. -, die Mehrkosten und die Komplexität beherrschbar bleiben.
Obwohl viel über Mischantriebe diskutiert wird, sie in wenigen Modellen angeboten werden, gilt dennoch auch für sie das Gleiche wie für den Dieselmotor: Da Hybridantriebe teurer sind als Benzin- und Dieselmotoren muss der Kunde die Mehrkosten wieder hereinfahren können.
Verbrennungsmotoren werden immer sauberer und sparsamer. Der edle Wettstreit zwischen Otto- und Dieselmotor verschärft sich. Weitere Fortschritte in Verbrauch und Emission sind bei beiden zu erwarten. Das bisher Erreichte ist für die Ingenieure immer ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Optimum – und die Schritte können sich sehen lassen, haben sie doch den Kraftstoffverbrauch der Pkw im Zeitraum von 1978 bis 2005 um rund 42 % reduziert. Pkw mit Diesel und Benziner werden noch sparsamer werden als heute – nach heutigem Kenntnisstand sind weitere rund 20 % möglich.
Für viele der aufgeführten Beispiele ist schon die frühe Phase ihrer Entstehung von entscheidender Bedeutung, bei der das Grundkonzept des Autos fixiert wird. Wie muss der Modulbaukasten (Aggregate, Plattformen, Elektronikstrukturen usw.) gestaltet werden, damit alle gewünschten Modellvarianten bei geringstem Aufwand realisiert werden können? Wie kann „Overengineering“, also nutzlose Überkomplexität, vermieden werden? Was kann herstellerübergreifend standardisiert werden, ohne dass kunden- und markenrelevante Funktionen und Merkmale darunter leiden? Beispielsweise werden so neue elektronische Bordnetzstrukturen in der unternehmensunabhängigen internationalen Organisation „Automotive Open System Architecture“ (Autosar) entwickelt.
Die Komplexität der Serienprodukte beherrschbar zu machen und die beste Zielkonflikt-Synthese zu finden heißt: Kooperation. Vom ersten Entwicklungsschritt bis zur Endkontrolle – die Systemlieferanten und Komponentenzulieferer sind in den Prozess eingebunden. Doch bei allen Lösungen von Zielkonflikten muss die Automobilbranche mit der Ambivalenz leben: Sie hat viel durch Gewichtsminderung und Verbrauchsreduzierung erreicht, das teilweise durch wachsende Ansprüche der Autokäufer wieder kompensiert worden ist. Diese Doppelwertigkeit wird bleiben, denn sie gehört zum Geschäft. HANS-HERMANN BRAESS
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