Bahn 24.03.2000, 17:24 Uhr

Ein langer Weg bis „SafeRail“

Ende Februar erklärte Bahn-Chef Hartmut Mehdorn, dass die „Sicherheit das wichtigste Kapital der Bahn“ sei. Eschede und Brühl aber haben gezeigt, dass es damit nicht so weit her ist. Auch die Bahn weiß, dass Zugfahren sicherer werden muss.

Beidhändig dreht Dieter Bäumler das Rad nach rechts. Der 58-jährige Lokführer erhöht das Tempo des Eurocity „Goethe“ ganz allmählich und gehorcht damit dem Lichtsignal bei der Ausfahrt aus dem Gleislabyrinth des Leipziger Hauptbahnhofs. Der Fahrschalter im Führerraum der Lok aus dem Jahr 1967 rastet ein, der Tachometer zeigt nun die Zahl 40 an. Diese Höchstgeschwindigkeit gilt bis zum nächsten Hauptsignal, also für einige hundert Meter.

Unfälle reduzieren die Umsätze der Deutschen Bahn

Nicht immer handeln Lokführer so souverän wie Bäumler. In der Nacht zum 6. Februar 2000 starben neun Menschen, fast 150 wurden verletzt, als in Brühl bei Bonn ein Zug wegen weit überhöhter Geschwindigkeit entgleiste. Immer noch liegen die Ergebnisse der Untersuchung über die Unfallursachen nicht vor. Eine verwirrende Ausschilderung entlang der Gleise soll zur Tempoüberschreitung durch den Fahrer geführt haben, da Gleismagneten zur automatischen Abbremsung fehlten, konnte der zu schnelle Zug nicht mehr gebremst werden. Hinzu kam ein komplizierter zweimaliger Gleiswechsel in dichtem Abstand.
Es ist 10.51 Uhr. Lokomotivführer Bäumler steuert konzentriert den EC „Goethe“ in Richtung Frankfurt/Main – einen der über 35 000 Züge mit insgesamt fast 4 Millionen Fahrgästen, die die Deutsche Bahn (DB) AG täglich durch die Republik lenkt.
Fast zur selben Uhrzeit, um 10.55 Uhr, geschah am 3. Juni 1998 im niedersächsischen Eschede das größte Bahnunglück der DB. Der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ entgleiste, 101 Menschen starben. Nach Aussage der Staatsanwaltschaft hat ein zu weit abgefahrenes Rad den Unfall ausgelöst. Der Radreifen war wegen Materialermüdung gebrochen. Die Bahn hat laut Geschäftsbericht 1998 infolge des Unfalls einen Umsatzverlust von über 100 Mio. DM gemacht.
Als direkte Konsequenz aus dem Eschede-Unglück wechselte die DB die erst 1992 eingeführten Schwingungen und Lärm dämpfenden Räder der Bauart 64 überall wieder aus und ersetzte sie durch die weltweit üblichen Vollscheibenräder. Eingeführt wurde außerdem eine automatisierte Ultraschallprüfung von Radsätzen. Untersuchungen auf Rissbildungen sollen künftig auch bei langsamer Anfahrt im Bahnhof möglich sein, indem der Zug an gleisnahen Messgeräten vorbeirollt. Die Werte kann der Lokführer direkt an einem Monitor ablesen. Erste Konsequenz aus dem Unfall Anfang Februar in Brühl: „Wir haben der Bahn untersagt, am Bahnhof Brühl Zugfahrten auf dem Ausweichgleis 3 durchzuführen“, sagt Heinrich Grauf,Referatsleiter im Eisenbahnbundesamt (EBA) in Bonn. Stattdessen fahren die Züge heute nur auf den beiden Hauptgleisen, gefährlicher Gleiswechsel entfällt dadurch.
Materialermüdung, scheinbar nicht ausreichende Labor- und Fahrversuche vor Einführung neuer Techniken oder Wartungen in zu großen Intervallen sind nur einige der möglichen Gefahren, die im täglichen Bahnbetrieb lauern. Auf dem ersten Streckenabschnitt des EC „Goethe“ sind häufig Gleisbauarbeiter unterwegs – so auch an diesem Tag um 11.07 Uhr kurz vor Großkorbetha. Bäumler berührt mit dem Fuß ein Pedal, ein Pfeifton ertönt, das den orangefarben gekleideten Sicherheitsposten des Viererteams warnt.
Nach Unfällen steht stets die Frage nach mehr Sicherheit im Bahnverkehr im Mittelpunkt der Diskussion. Gegen Vorwürfe wehrt sich die Bahn regelmäßig mit Zahlen und Vergleichen. Nach einer Studie des Basler Prognos-Institutes liege das Unfallrisiko auf der Straße mehr als 26-mal höher als auf der Schiene. Außerdem sei die Rate schwerer Unfälle, bezogen auf die gefahrenen Personen-km, von 1993 bis 1998 um 40 % gesunken. Laut DB hat es 1998 auf gefahrenen 65 575 Mio. km 756 „Ereignisse“ gegeben. Das sind Personenschäden sowie Sachschäden über 500 000 DM. Weitere Informationen verrät die Bahn nicht, beispielsweise, bei wie vielen Unfällen menschliches Versagen die Ursache ist. Der Grund: Es besteht keine gesetzliche Meldepflicht für gefährliche Ereignisse im Eisenbahnbetrieb. Das EBA führt zwar seit 1996 Aufzeichnungen über einzelne Unfälle, macht aber keine Aussagen über eine Statistik. Dieter Bäumler hatte in seiner über 25-jährigen Dienstzeit glücklicherweise noch keinen schweren Unfall. Sicherheitsrisiken während der Fahrt, beispielsweise wenn ein Lokführer übermüdet ist, werden durch die in allen Zügen installierte “Sicherheitsfahrschaltung“ gemindert. Der Lokführer im EC „Goethe“ ist keineswegs müde, aber er nimmt dem Gast zuliebe den rechten Fuß von einem kaum sichtbaren Bodenblech. Sekunden später blinkt und trötet es laut im Führerraum. „Reagiert ein Lokführer nicht darauf, wird der Zug automatisch bis zum Stillstand abgebremst“, erläutert er.
Wie sicher Zugfahren ist, hängt allerdings nicht nur vom Lokführer ab. Viele der in Bahnhöfen und Stellwerken tätigen Fahrdienstleiter sind dafür verantwortlich, dass ein Gleisabschnitt nicht zur selben Zeit von zwei Zügen befahren wird. Bei Verspätungen sorgen sie dafür, dass Züge umgeleitet werden. Für die Strecke, die Bäumler fährt, gibt es seit wenigen Wochen eine neue Betriebszentrale in Leipzig (BZ), betrieben von der Bahntochter DB Netz AG. Das 62 Mio. DM teure Kontrollzentrum in Bahnhofsnähe nahm im Februar seine Arbeit auf. Insgesamt gibt es sechs ähnliche BZ in Deutschland. Die siebente und letzte wird ab 2001 in München in Betrieb gehen. Die Betriebsführung auf den Hauptverkehrsadern des insgesamt 38 000 km langen DB-Streckennetzes wird in diesen Betriebszentralen konzentriert. Der Ersatz von alten Stellwerken durch Elektronische Stellwerke und die Zusammenfassung von Stellwerken zu BZ erfolgt aus betriebswirtschaftlichen Gründen. „Die Sicherheit wird mittelbar durch Reduzierung von internen Schnittstellen und größere Transparenz der Betriebsprozesse verbessert“, so EBA-Experte Grauf.
200 BZ-Beschäftigte überwachen rund um die Uhr täglich 11 000 Züge auf dem ca. 7600 km langen Netz in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Süd-Brandenburg. In der Leitwarte 2 achtet Disponent Klaus Klemm auf alle Abweichungen vom Zeitplan der Züge zwischen Gerstungen und Merseburg. Im geräuscharmen Großraum-Büro sitzt der 56-Jährige vor acht je 21 Zoll großen Monitoren. In Zeitwege-Diagrammen werden Zugverläufe in farbigen Linien vor schwarzem Hintergrund angezeigt. Eine „15“ signalisiert eine viertelstündige Verspätung. „Alle 20 Sekunden wird die Bildanzeige aktualisiert“, sagt Klemm.
Bei Verspätungen und Unfällen kann der Disponent in wenigen Minuten Umleitungen elektronisch veranlassen oder einem Lokführer Handlungsbefehle geben. Die BZ- Software ist so programmiert, dass beispielsweise keiner aus Unachtsamkeit einen IC auf einen wartenden D-Zug auffahren lassen kann. BZ-Leiter Bernd Löhn ist stolz auf dieses Sicherheitssystem. „Bei Notfällen oder Störungen, egal wo sie passieren, ist das DB-Notfallmanagement spätestens in 30 Minuten vor Ort.“
Kann noch mehr Technik künftig menschliches Versagen verhindern und Unfälle vermeiden helfen? Darüber sind sich die Experten uneins. Die Bahn jedenfalls will den „Risikofaktor Mensch“ mittelfristig besser beherrschen. Ab 2004 sollen Züge ohne Lokführer eingesetzt werden, ein Testbetrieb ist erstmals auf der neuen S-Bahn-Strecke zwischen Pirna und Dresden geplant. Ob als Ergebnis des von EU und Bundesforschungsministerium geförderten Pilotprojekts künftig auch im Fernverkehr fahrerlose Züge eingesetzt werden, ist allerdings noch nicht entschieden.
Im Stillen ist die Bahn fieberhaft auf der Suche nach Wegen für einen sichereren Fahrbetrieb. So bearbeitet die TU Braunschweig seit 1999 mit den Universitäten Ulm und Stuttgart das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Vorhaben „SafeRail“. Herzstück des Ganzen ist eine Untersuchung über den so genannten Funkfahrbetrieb (FFB). Damit im FFB künftig eine Zugfahrt stattfinden kann, muss zuerst vom Fahrzeug per Funk eine Fahrerlaubnis für die zu befahrene Strecke angefordert werden. Die jeweils für mehrere Nebenstrecken zuständige regionale Zentrale erteilt zwar die Erlaubnis, muss sich im FFB aber nicht mehr wie bisher um Gefahrenpunkte auf der Strecke kümmern.

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Der „intelligente Zug“ soll die Unfallgefahr senken

Ziel des FFB ist der „intelligente Zug“. Im FFB kommt ein Zug vor Schranken und Weichen zum Halt, wenn ihm dieses keine Sicherungsmeldung funken. Auch der Lokführer würde in seinen Entscheidungen weitaus stärker eingeschränkt. Ist z.B. Tempo 40 vorgeschrieben, kann er gar nicht schneller fahren. Der FFB wird derzeit in DB-Auftrag auf zwei Nebenstrecken erprobt (Lauterecken-Kaiserslautern und Brackwede-Dissen). TU-Projektleiter Dr. Jan-Tecker Gayen: „Erstmals sollen im Rahmen der Studie mathematische Nachweise erbracht werden, ob eine neu einzuführende Bahn-Technik mehr Sicherheit bringt oder nicht.“ WILLM SCHMÜLLING/cf
Die alten Signale haben ausgedient, immer mehr Elektronik steuert den Fahrbetrieb der Bahn. 200 Beschäftigte überwachen in der neuen Betriebszentrale der Bahn in Leipzig rund um die Uhr täglich 11 000 Züge auf dem 7600 km langen Netz in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Süd-Brandenburg.
1998 gab es laut Bahn rund 750 Unfälle – bei wie vielen der Lokführer Schuld hatte, ist unbekannt. Im Führerhaus jedes Zuges überwacht die so genannte Sicherheitsfahrschaltung den Lokführer. Reagiert er nicht auf ein bestimmtes akustisches Signal, wird der Zug abgebremst.
Lokomotivführer Dieter Bäumler im EC „Goethe“ Leipzig/Frankfurt – einer der jährlich über 35 000 Züge mit fast 4 Millionen Fahrgästen.
Lokführer – Ausbildung

Der Mann im Führerhaus

Von der Gewissenhaftigkeit des Lokführers hängt die Gesundheit der Passagiere ab. So könnte er z.B. Tempolimits missachten oder den individuellen „Bremszettel“ des Zuges ignorieren und dadurch Bremswege falsch bemessen. vergisst er einen zweiten Blick aus dem Fenster beim langsamen Abfahren vom Bahnhof, könnte ein Reisender, der im letzten Augenblick einsteigen will, schwer verletzt werden. Eine weitere Gefahr besteht dann, wenn er Zug und Wagen nicht richtig zusammenkoppelt, wodurch eine Entgleisung ausgelöst wird. Potentielle Gefahrensituationen für Lokführer werden im Rahmen einer dreijährigen Ausbildung (derzeit DB-weit 400 Personen) nachgestellt, z.B. wird an Fahrsimulatoren das Verhalten bei technischen Störungen geübt. Voraussetzung ist ein guter Real- oder sehr guter Hauptschulabschluss. Beim „Dienst unter Überwachung“ wird das praktische Lokfahren gelernt. Es dürfen nur Strecken befahren werden, bei denen man Streckenkenntnisse nachweisen kann. Dafür müssen die Lokführer auf einer Strecke insgesamt acht bis zwölf Mal als Begleitung im Führerraum mitgefahren sein. Manchmal freilich nutzt auch die beste Ausbildung nichts: Mitte März entgleiste ein Zug im thüringischen Ilmenau, weil ein Bagger an einem Bahnübergang trotz geschlossener Schranke über die Schienen fuhr und mit dem Zug zusammenstieß. wis
Im Führerstand des ICE bestimmt Computertechnik den Alltag des Lokführers.

 

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