Doppelhelix für die Faszination Auto
Die Fahrzeuge des Erfinders des Automobils und die Erbauer eines der bautechnisch komplexesten Bauwerke.
Den besten Blick auf das neue Mercedes-Museum in Stuttgart ist wohl den Autofahrern auf der B 14 von Norden kommend vorbehalten, wenn sie den Kappelbergtunnel verlassen. Von weitem sichtbar wächst ihnen eine ungewöhnliche Skulptur entgegen.
Tobias Wallisser, Architekt von UN studio van Berkel & Bos, Amsterdam, die 2001 den international ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen hatten, spricht von einem „Museum für Menschen, die sich in ihm bewegen, träumen, lernen und sich von Faszination Licht und Raum leiten lassen, einem neuen Wahrzeichen, das Stuttgarts bekannteste Erfindung feiert“.
Räumlich ist das Gebäude als Doppelhelix strukturiert. Die Symmetrie des Grundrisses, ein dreiblättriges Kleeblatt beschreibend, wird durch die Rotation der Ebenen überspielt. Die Blätter des Kleeblatts wandern um ein gebogenes dreieckiges Atrium und formen fünf horizontale Ebenen, die jeweils aus einem eingeschossigen Sammlungsraum bzw. einer zweigeschossigen Mythosebene bestehen.
Drei gläserne Aufzüge transportieren die Besucher vom Grunde des Atriums hinauf auf die höchste Ebene. Hier betreten sie eine Brücke in Form des Mercedes-Sterns, in deren Mitte ein Pferd den Paradigmenwechsel der menschlichen Fortbewegung symbolisiert. In der ersten Mythosebene beginnt die Zeitreise durch die Geschichte von Mercedes-Benz, die ja auch den Anfang des automobilen Zeitalters definiert. Die ersten Autos der Welt drehen sich auf kreisförmigen Glasflächen, über Düsen eingeblasene Luft erzeugt den Geruch von geöltem Metall – Werkstattatmosphäre der Erfinder.
„Die Mythosräume exponieren einzelne herausragende Fahrzeuge aus der 120-jährigen Produktgeschichte von Mercedes-Benz. Die fünf zum Atrium orientierten Mythosräume präsentieren in chronologischer Abfolge den „Mythos Mercedes“: Gründerzeit (1886-1914), Umbrüche (1914-1945), Wunderjahre/Wiederaufbau (1945- 1960), Sicherheit/Vordenker (1960- 1982) und Weltbewegend (seit 1982). Auf ihrem Weg zwischen den Ebenen führen die Mythosrampen die Besucher vorbei an Schaukästen, die besondere Ereignisse der jeweiligen Epoche präsentieren. Die fünf eingeschossigen, nach außen orientierten Sammlungsräume thematisieren die Galerien der Reisen (Busse, Taxen), der Lasten (Lkw), der Helfer (Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen), der Namen (Papamobil, Fußball-Weltmeister Deutschland 1974, Ringo Starr) und der Helden, mit z.B. einem Leichenwagen aus Palermo. Querverbindungen auf jeder Ebene erlauben es dem Besucher, sich ein individuelles Programm aus beiden Einheiten zusammenzustellen.
Auf der Ebene über dem Eingang findet der Rundgang mit der Ausstellungseinheit Rennen und Rekorde seinen spektakulären Abschluss. „In bautechnischer Hinsicht stieß der Entwurf an die Grenzen der Machbarkeit“, betont Architekt Thomas Wallisser. „Die Umsetzung der anspruchsvollen Geometrie des Entwurfs war nur in Ortbeton möglich, wobei die Herstellung glatter Oberflächen für doppelt gekrümmte Bauteile eine besondere Herausforderung darstellte. In der Zusammenarbeit mit Arnold Walz wurde die gesamte Geometrie des Gebäudes als parametrisches Entwurfsmodell aufgebaut, um die Grenzwerte der Umsetzbarkeit ermitteln zu können.“
Für alle doppelt gekrümmten Bauteile wurde die gesamte Werkplanung von den Architekten als räumliches Computer-Modell geschaffen und an die Fachplaner und ausführenden Firmen weitergeleitet. Die Erzeugung der Planrohlinge aus den dreidimensionalen Daten wurde automatisiert. Zur Vereinfachung der Herstellung doppelt gekrümmter Flächen wurde ein spezielles Verfahren entwickelt, das es erlaubt, doppelte Krümmung durch planeben zugeschnittene Elemente zu erzeugen, die nur elastisch verformt in die gewünschte Form gedrückt werden. Dieses Verfahren wurde sowohl für die Schalelemente als auch für Teile der Fassadenverkleidung angewandt.
Wie bereits beschrieben, ähnelt der Grundriss des Museums einem idealisierten gebogenen Dreieck mit Kantenlängen von ca. 80 m. Das 48 m hohe Gebäude gliedert sich in neun Hauptebenen. Im Zentrum, begrenzt von den drei Gebäudekernen mit Treppenhäusern und Aufzügen, befindet sich das 40 m hohe Atrium.
„Den Gebäudecharakter prägen ineinanderlaufende geschwungene, brückenartige Bauteile, die Twiste und Mythen. Das äußere Erscheinungsbild bestimmen schräg stehende Fassadenstützen mit sechseckigem Querschnitt. Als wesentliche Ausstellungsflächen dienen bis zu 30 m weit gespannte horizontale Deckenflächen“, erklärt Tragwerksplaner Dietmar Klein von Werner Sobek Ingenieure, Stuttgart. Die Geschosse der drei Sektoren sind teilweise versetzt und bis zu 6 m hoch. Das Tragwerk besteht aus Stahlbeton mit einer vorherrschenden Betongüte von B 55 und höchsten Sichtbetonanforderungen.
Von besonderer Bedeutung sind die fünf ca. 70 m langen Mythosrampen, die als runde Stahlbetonhohlkästen in Form eines Halbkreises auf den Fassadenstützen lagern. Sie bestehen aus einem Hohlkasten, der sich aus einem Rechteckquerschnitt in einen Dreiecksquerschnitt wandelt. Der Boden der Mythosebenen besteht aus Stahlverbunddecken, die Unterseite der Mythosrampen aus einer zweiachsig gekrümmten Sichtbetonfläche, in die die Fassadenstützen einbinden. Im Inneren der Rampen befinden sich bis zu 2,5 m breite Schotte, um die großen Lasten auf die Stützen abzuleiten. „In den verbleibenden Hohlräumen erfolgte bereits im Rohbau der Einbau der haustechnischen Anlagen, wie Lüftung und Sprinkler“, erläutert Projektleiter Martin Schuder von der ausführenden Ed. Züblin AG, Stuttgart. Die Unterseiten der Hohlkästen wurden mit dreidimensionalen, vorgefertigten Schalungskörpern hergestellt und einzeln vorberechneten Sichtbetonschalplatten belegt. An den Außenseiten der Mythosrampen befinden sich geschosshohe, einachsig gekrümmte, 50 cm starke Wände.
„Neben dem hohen bautechnischen Anspruch galt es auch, die sehr knapp bemessene Bauzeit einzuhalten. Die Ausführung erforderte eine detaillierte Logistik und weit vorausschauende Planung der eng vernetzten Abläufe. Allein die Umsetzung der Geometrien war auf der Baustelle nur mittels Koordinatenabsteckung durch den Geometer durchführbar“, erklärt Martin Schuder von Züblin, die gemeinsam mit Wolff & Müller GmbH & Co. KG, Stuttgart, die bisher kompliziertesten Rohbauarbeiten dieser Art ausführte. Zur Realisierung der Gesamtbaumaßnahme wurden 50 000 m³ Beton und rund 11 000 t Betonstahl in 14 Monaten Rohbauzeit eingebaut.
KLAUS FOCKENBERG
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