Crashtests setzen Gesetzgeber unter Druck
VDI nachrichten, Düsseldorf, 23. 9. 05 – Fahrzeugsicherheit hat in der Autowerbung einen hohen Stellenwert. Viele Hersteller hängen es an die ganz große Glocke, wie viele Sterne die Prüfer von Euro NCAP ihren Modellen verliehen haben. Zweifellos ein Fortschritt, doch es gibt auch Kritik an den Tests der Organisation.
Über 200 Fahrzeugmodelle und Modellvarianten hat die unabhängige Testorganisation Euro NCAP (European New Car Assessment Programme) seit ihrer Gründung im Jahr 1997 getestet. Von jedem der 213 Testautos schaffte die Organisation mehrere Exemplare an, um sie in ihren Crashlabors in Schrott zu verwandeln.
Zusammengerechnet hat Euro NCAP dem guten Zweck also schon mehr als 1000 Neuwagen geopfert. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, durch Aufklärung der Kunden sicherere Autos durchzusetzen, als sie der Gesetzgeber verlangt. Denn als sich Euro NCAP gründete, war Fahrzeugsicherheit noch kein Thema für Autokäufer. „Sie erfahren heute alles über Leistung und Verbrauch, aber fast nichts über die Crashsicherheit der Modelle“, klagte Euro NCAP-Gründungspräsident Max Mosley 1997. Von nun an wolle seine Organisation verlässlich über das Crashverhalten von Neuwagen aufklären und so helfen, den Markt für Sicherheitsfragen zu sensibilisieren.
Dieses Ziel hat Euro NCAP laut Andre Seeck, Leiter des Referats Fahrzeug-Sicherheitsbewertung und Fahrerassistenzsysteme der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), auf jeden Fall erreicht. Er vertritt die Bundesregierung im Euro NCAP-Konsortium, das inzwischen Vertreter der EU-Kommission, vier weitere europäische Regierungen, Verbraucherschutzverbände und Autoclubs zu seinen Mitgliedern zählt (u.a. ADAC und Stiftung Warentest). Laut Seeck sind die Euro NCAP-Anforderungen heute ein fester Bestandteil der Lastenhefte, wenn Autohersteller neue Modelle entwickeln. „Hersteller nutzen die Euro NCAP-Wertungen inzwischen auch, um ein Image als sichere Marke aufzubauen“, so der Experte.
Gerade Renault wirbt offensiv damit, dass seine Modelle reihenweise die Bestnote von fünf Sternen erreichen. Tatsächlich, so zeigt eine Untersuchung der Schwedischen National Road Administration, zahlt sich jeder Stern im echten Unfallgeschehen aus. Anhand einer Analyse von Unfällen, die sich zwischen 1994 und 2000 in Schweden ereigneten, stellt die Studie fest, dass das Risiko tödlicher oder schwerer Verletzungen mit jedem Stern um 12 % sinkt. „Allerdings“, bemerkt Seeck, „sind die Unfälle in Schweden anders als die in Deutschland, und außerdem hat sich seit dem Erscheinen der Studie im Jahr 2000 viel getan.“ Heute lägen die getesteten Modelle auf höherem Niveau viel näher beieinander.
Die Bundesregierung ist Euro NCAP beigetreten, um die Testmethoden zu verbessern. Wichtigste Ziele: engerer Bezug zur Unfallrealität und objektivere Bewertungskriterien. Seeck kritisiert vor allem die Punkteverteilung , weil sie dem Unfallgeschehen auf deutschen Straßen nicht gerecht wird. Gerade den Pfahltest, bei dem die Autos mit der Fahrertür 29 km/h schnell an einen Stahlpfahl krachen, hält er mit zwei Punkten für unterbewertet: „Fast die Hälfte der getöteten Fahrzeuginsassen bei Alleinunfällen stirbt bei Pfahlunfällen, meist an Straßenbäumen.“ Dem würden zwei Punkte nicht gerecht. Auch die Bewertung von Gurtwarnsystemen sieht Seeck skeptisch. Zwar verteidigt er, dass dafür drei Punkte vergeben werden, denn Studien belegen, dass etwa die Hälfte aller getöteten Nicht-Angeschnallten normalerweise mit Gurt fuhr und nur bei der Todesfahrt aus Unachtsamkeit darauf verzichtete, „doch Kunden, die sich grundsätzlich anschnallen, nützen die Systeme nichts“, warnt er. Für sie sei ein Auto mit 32 Punkten ohne Piepser sicherer als eins mit 33 Punkten, von denen drei fürs Warnsystem sind. Doch zwischen 32 und 33 Punkten liegt die Grenze von vier zu fünf Sternen.
Sicher verzichtet kein Hersteller mehr auf den Gurtpiepser, wenn er dadurch einen Stern einbüßt. Denn weil viele Kunden auf die Sterne achten, strecken sich die Autohersteller danach. Die Macht der Sterne treibt mitunter seltsame Blüten. So klagen Zulieferer, dass OEMs sie bis wenige Wochen vor Produktionsbeginn hinhielten. Erst als sich das Euro NCAP-Ergebnis abzeichnete, oderten sie die Sicherheitssysteme – oder auch nicht.
Neben solchen Klagen aus Zuliefererkreisen gibt es Unmut über die mangelnde Objektivität mancher Wertungen. So wird etwa die Gefahr für die Knie nicht nur anhand der Messergebnisse am Dummy bewertet, zusätzlich nehmen Gutachter die entsprechende Fahrzeugpartie in Augenschein. „Das ist auch nötig, weil die Knie bei Unfällen in anderen Positionen sein können als beim Dummy im Labor“, sagt Seeck. Doch folge die Bewertung der Gutachter keiner Norm. Wo Entscheidungen intransparent bleiben, nehme man den Fahrzeugentwicklern aber genau jene Argumentationshilfe gegenüber ihrem Marketing und Management, die den Erfolg von Euro NCAP bisher ausmachte, warnt der Experte.
Kritik an den Tests kommt auch von den Global Playern der Branche, die den Erfolg der vor allem am europäischen Markt aktiven Franzosen argwöhnisch beäugen. Seeck kann das nachvollziehen, denn in den USA und Japan werden andere Crashtests gefahren. So lassen die Amerikaner die Autos mit der ganzen Front gegen eine Barriere rauschen, während die Euro NCAP-Barriere beim Frontalcrash nur 40 % der Front abdeckt. In den USA fangen beide Längsträger die Energie auf, im europäischen Test nur einer. „Entsprechend kommt es dort auf gute Rückhaltesysteme an, während es bei uns mehr ums Lenkrad, den Fußraum oder Knieaufpralle geht“, erklärt er. Die global aktiven Hersteller müssen also Kompromisse zwischen den verschiedenen Anforderungen finden. Und so stehen die Franzosen nach Euro NCAP-Sternen oft besser da, obwohl ihre Autos beim Frontalcrash nicht unbedingt sicherer sind. Nicht nur Seeck sähe es deshalb lieber, wenn Euro NCAP den Crashtest mit der vollen Front ins Programm nähme. „Das ist natürlich eine Kostenfrage“, schränkt er ein, man könne die Zahl der Tests nicht unbegrenzt ausweiten.
Trotz Kritik ist Seeck grundsätzlich vom Prinzip der unabhängigen Crashtests überzeugt. „Allein schon, weil sie als Eisbrecher für neue gesetzliche Regelungen fungieren.“ Was er damit meint, erklärt er an folgendem Beispiel: Als 2002 ein Dummy mit verbesserter Sensorik auf den Markt kam, setzte ihn Euro NCAP drei Monate später ein. Zwar jaulten die Autohersteller auf, weil sie ihre Tests noch mit dem alten Dummy gefahren hatten. Doch den unabhängigen Verbraucherschützern war das herzlich egal. Teils stellten sie nach der Umstellung große Unterschiede fest, bei anderen Herstellern blieb diese Differenz aus. „Bis der neue Dummy die EU-Gesetzgebung durchlaufen hätte, wären sicher zehn Jahre vergangen“, sagt er. So war die verbesserte Technik nach drei Monaten im Einsatz und hat heute in den Autoherstellern die lautesten Fürsprecher. Sie wollen, dass der neue Dummy auch bei Tests im Rahmen der Euro-Crashnormen (ECE) den Kopf hinhält. PETER TRECHOW
Heftige Kritik an der Bewertung mancher Sicherheitsaspekte
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