Ökosystem im Schwimmbadformat
Das Mittel richtet deutlich mehr Schaden an als angenommen.
Ein Labyrinth aus giftgrünen Wasserrutschen empfängt den Besucher der Fließ- und Stillgewässersimulationsanlage im Süden Berlins. „Badeanstalt“ nennen die Mitarbeiter des Umweltbundesamtes (UBA) das Modellökosystem – ein Stück Natur in Kleinformat. In der 15 Mio. € teuren Anlage wird untersucht, wie etwa Pflanzenschutzmittel, die der Regen vom Acker spült, die Seen und Bäche verändern.
In 16 überdimensionalen Regenrinnen aus Kunststoff fließen rund 34 000 l Wasser, je nach Bedarf schnell oder langsam. Auch ein quasi-natürliches Flussbett wird geboten: Sediment und Schlamm haben die Forscher eigenhändig aus dem Berliner Umland herbeigeschafft. Die Rinnen enden in Teichen mit sandiger Uferzone. Befüllt sind die 14 000-l-Kunstteiche mit Sand, Sediment, Oberflächenwasser, Wasserpflanzen. Ganze Nahrungsketten mit Algen, Wasserschnecken und Wasserflöhen wurden in der zweijährigen Einlaufphase aufgebaut. Die eine Hälfte der Anlage ist draußen den wirklichen Wetterverhältnissen ausgesetzt.
Geschützt in einer Halle steht die andere Hälfte. Darüber thront eine Computerleitwarte in der Licht, Temperatur, Wasserqualität und Fließgeschwindigkeit gesteuert werden. Und fünf km unterirdische Rohre speisen das System über 300 Ventile und 80 Pumpen mit Wasser.
Ein gängiges Herbizid aus dem Rapsanbau hat gerade seinen Wirktest auf der Anlage absolviert. Es hält Wildkräuter, wie Taubnessel, Vogelmiere oder Ackerfuchsschwanz davon ab, auf den Feldern mit Winter- oder Sommerraps Fuß zu fassen. Bisher werden die Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln, Arzneimitteln oder anderen Chemikalien auf die natürliche Umgebung durch den Hersteller meist nur im Labor geprüft. „Natur ist aber mehr als ein Test mit Wasserfloh im Becherglas“, erklärt Ralf Schmidt, der Leiter der Anlage.
Unterschiedliche Konzentrationen von Metazachlor haben die Berliner Wissenschaftler im Sommer 2003 in die Kunstflüsse gekippt und anschließend beobachtet, gemessen, gezählt. Die Trübung, die Anzahl der Algen und Schnecken, der Zustand der Wasserpflanzen zeigen, wie intakt die künstliche Teichwelt ist. Am Ende des Versuchs sind in zuvor dicht bewachsenen Tümpeln nur noch eine Hand voll Wasserpflanzen übrig. Die Forscher finden wenige halb verhungerte Spritzschlammschnecken. Die Annahme, das Mittel würde sich schnell zersetzen bevor es irgendwo Schaden anrichtet, hat sich nicht bestätigt.
Das Herbizid brauchte unter den kontrollierten naturnahen Bedingungen 4-mal bis 8-mal länger um sich zur Hälfte abzubauen als im Labormaßstab. Im Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel wird die Gewässerbelastung zwar abgeschätzt. Die Prognose geht aber von starken Verdünnungen in breiten Flüssen aus. In Bächen gibt es kaum Messwerte. „Wir glauben, dass die Konzentrationen hier schon im wirkungsrelevanten Bereich liegen“, vermutet der UBA-Experte.
Die meisten Modellökosysteme simulieren stehende Gewässer. Das Schicksal chemischer Substanzen zudem in Flüssen oder Bächen zu verfolgen, ist selten, denn es ist sehr aufwändig. Noch aufwändiger sind echte Freilandversuche – und die Bedingungen sind auch nicht kontrollierbar. Schon allein die Vorstellung, reihenweise giftige Chemikalien zu Testzwecken in die Natur zu kippen, ist abwegig. Dennoch ist es nötig, wie das Experiment auf der Berliner Anlage deutlich zeigt, die Reaktion von Flora und Fauna zu beobachten, wenn eine chemische Substanz dazukommt.
„Allerdings sind Mesokosmos-Studien eine teure Angelegenheit. Für so eine Untersuchung im Rahmen der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln kommt man inklusive Analytik und aller biologischer Messungen auf mehrere hunderttausend Euro“, meint Tido Strauß vom gaiac-Forschungsinstitut der RWTH Aachen.
Nicht nur die hohen Kosten und der große Aufwand ein Modellbiotop durchzumessen werden in Fachkreisen diskutiert. Auch die Bewertung ist schwierig. „Die komplexen Wechselwirkungen können die Interpretation erschweren“, erklärt Udo Hommen vom Schmallenberger Fraunhofer-Institut. Für die Bewertung von Mesokosmos-Studien zur Pflanzenschutzmittelzulassung gibt es bereits Empfehlungen der EU. Auch die OECD bereitet seit längerem eine Richtlinie vor. Sie beschreibt, wie die naturnahen Untersuchungen zur verfeinerten Risikoanalyse in Zukunft durchgeführt und ausgewertet werden sollen.
Indes steht der Berliner Mesokosmos schon wieder für ein neues Experiment bereit: Der Biozidanteil eines Antifoulingmittels aus der Schifffahrt wird getestet. Der Abbauversuch soll bis zum Frühjahr Daten liefern, wie stabil das Mittel unter natürlichen Bedingungen ist. Nachdem Wissenschaftler den Stoff in Meerwasser- und in Süßwasserproben gefunden haben, besteht der Verdacht, dass die Chemikalie schädigend auf die Ökosysteme wirkt. KATHLEEN SPILOK/wip
Ein Beitrag von: