Dezentrale Kläranlagen im Kommen
VDI nachrichten, Frankfurt/Main, 29. 9. 06, swe – Mehr als 93 % aller Haushalte sind über die öffentliche Kanalisation an zentrale Kläranlagen angeschlossen. Doch nicht überall ist das die beste Lösung. In ländlichen Gebieten und Neubausiedlungen werden zunehmend dezentrale Kläranlagen getestet. Zum Beispiel in Heidelberg-Neurott oder in Knittlingen bei Pforzheim. Ein neuer Leitfaden soll außerdem den Kommunen weiterhelfen.
Ausländer, die nach Heidelberg kommen, besuchen meist das Schloss und die Alte Brücke. Inzwischen jedoch pilgern manche von ihnen an den Rand von Heidelberg nach Neurott. Die kleine Siedlung südlich von der romantischen Universitätsstadt ist zu einer Attraktion für Wasserwirtschaftsexperten aus aller Welt geworden.
„Es gibt Interesse aus China, Korea, USA und anderen europäischen Ländern“, berichtet Professor Walter Trösch, stellvertretender Leiter vom Fraunhofer Institut Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik (IGB).
In Neurott läuft seit Ende 2005 die bundesweit erste semidezentrale Membrankläranlage, die nicht an das öffentliche Kanalisationsnetz angeschlossen ist. „Das gereinigte Abwasser ist so sauber, dass man darin baden könnte“, sagt Trösch stolz. Er hat für das IGB die Anlage geplant und entwickelt.
Bei den CSB-Werten (chemischer Sauerstoffbedarf) bleibt die Kleinkläranlage deutlich unter 50 mg/l. Und liegt damit unter dem vorgegebenen Grenzwert von 75 mg/l bei zentralen Kläranlagen.
Das Abwasser wird mit moderner Membrantechnologie vor- und nachgeklärt. In der ersten Stufe wandeln Mikroorganismen Nitrat aus dem Abwasser zu Stickstoff um. In der zweiten Stufe findet die Nitrifikation statt. Im aerob betriebenen Membranbioreaktor wird aus Ammonium Nitrat gemacht.
Herzstück der beiden Trennstufen sind Rotationsscheibenfilter aus Keramik, die vom Fraunhofer-Institut entwickelt und von der Firma Bellmer gefertigt wurden.
Die Anlage hat zudem den Gemeindehaushalt entlastet. „Der Anschluss an das öffentliche Netz wäre viel teurer gewesen“, ist Professor Trösch überzeugt. Außerdem wurden die Bewohner von lauten und lästigen Tiefbauarbeiten verschont.
Bisher lief alles nach Plan. Die Anlage funktioniert reibungslos, ohne dass die Keramikteile ausgewechselt werden mussten.
Professor Trösch ist sich sicher, dass das dezentrale System auch anderswo eingesetzt werden könnte. Gerade für ländliche Gebiete, insbesondere in den neuen Bundesländern, seien semi-dezentrale Anlagen für 100 bis 10 000 Einwohnerwerte besonders gut geeignet, da die Kosten meist niedriger sind als für einen Anschluss an die Zentralkläranlage.
Auch beim Rückbau von Städten, wo die Einwohnerzahl drastisch abnimmt, sind dezentrale Lösungen denkbar. Thomas Kluge vom Institut für sozial-ökologische Forschung (IOE), plädiert für „Kombinationen zwischen dezentralen und semi-dezentralen Lösungen“. So ließe sich der Sanierungsdruck und Investitionsstau in der Wasserwirtschaft beheben.
Gemeinsam mit Jens Libbe vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) hat Kluge ein umfassendes Handbuch „Transformation netzgebundener Infrastruktur: Strategien für Kommunen am Beispiel Wasser“ veröffentlicht, das die Herausforderungen beschreibt, vor denen die kommunale Wasserwirtschaft steht.
Beim Bundesverband der Deutschen Gas- und Wasserwirtschaft (BGW) sieht man die Dezentralisierungstendenzen skeptisch. „Wo es wirtschaftlich und technisch sinnvoll ist, sollten grundsätzlich dezentrale Lösungen in Betracht gezogen werden“, meint Wasserwirtschaftsexpertin Michaela Schmitz. Allerdings setze dies eine kritische Prüfung der Konzepte voraus. Falls Anlagen und Netze schon vorhanden sind, sei ihre Nutzung sinnvoller. „Sonst zahlen die Leute doppelt.“
Professor Trösch versteht die Zurückhaltung der Wasserexperten. „Die Wasserbranche baut seit über 100 Jahren zentrale Anlagen und denkt immer noch sehr traditionell.“ Nur mit guten Betriebsergebnissen sei sie zu überzeugen. Das will Trösch schaffen.
Für ein Neubaugebiet in Knittlingen bei Pforzheim plant Trösch derzeit eine weitere dezentrale Kläranlage. Die Anlage wird am 12. Oktober eingeweiht. Gefördert wird das Pilotvorhaben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Projekts „Dezentral Urbanes Infrastruktur System“ (DEUS 21).
Besonders stolz sind Trösch & Co über die umweltfreundliche Technik. Das Abwasser wird über ein Vakuumkanalsystem abgesaugt und dann in einem anaeroben Reaktor mit integrierter Membrantechnik aufbereitet. Das dabei freiwerdende Biogas versorgt die Anlage mit Strom und Wärme. Darüber hinaus wird das Regenwasser aller 105 angeschlossenen Häuser gesammelt und per Membrantechnik aufbereitet. Mit dem gereinigten Wasser können die Hausbewohner ihr Geschirr spülen und sich duschen.
NOTKER BLECHNER
Thomas Kluge/ Jens Libbe: Transformation netzgebundener Infrastruktur – Strategien für Kommunen am Beispiel Wasser, Berlin 2006, Difu-Beiträge zur Stadtforschung, Band 45, 420 Seiten, ISBN-10: 3-88118-411-2, 19 Euro.
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