Wie realistisch ist Erdbebenvorhersage?
Das Erdbeben in der Türkei hat brutal in Erinnerung gerufen, daß die Wissenschaft keine verläßlichen Methoden zur Vorhersage solcher Ereignisse in der Hand hat.
Das war auch die einhellige Expertenmeinung bei einer Pressekonferenz vergangene Woche im Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam, bei der eine erste Bilanz der Katastrophe gezogen wurde. Obwohl die Erdbebenregion mit einem Netz von Instrumenten überzogen ist, hatte es keine Warnsignale gegeben. „Das ist dennoch keine Bankrotterklärung der Wissenschaft“, betonte Prof. Jochen Zschau vom GFZ. Die Erkundung des Erdinneren sei immer noch Grundlagenforschung. Ob sich daraus einmal Möglichkeiten zur Erdbebenvorhersage ergeben können, stehe in den Sternen.
In den 70er Jahren war der Optimismus noch größer. Insgesamt 28 Phänomene waren im Gespräch, die auf kommende Erdbeben hindeuten sollten. Als aussichtsreichste Indikatoren galten bestimmte Muster von Vorbeben bzw. eine ungewöhnliche seismische Ruhe, Änderungen der Radonkonzentration im Grundwasser oder auch ein Anstieg des Grundwasserspiegels. Bei einzelnen Beben wurden im nachhinein Anomalien in diesen Indikatoren identifiziert. Aber die Hoffnungen, darauf aufbauend Methoden für einigermaßen verläßliche Vorhersagen entwickeln zu können, verflüchtigten sich immer wieder. Auch die Behauptung einer griechischen Gruppe, sie könnte durch Auswertung geoelektrischer Signale Erdbeben voraussagen, hat sich als nicht als stichhaltig erwiesen.
Das 1977 in den USA erlassene Gesetz zur Reduzierung des Erdbebenrisikos war anfangs ebenfalls stark auf Erdbebenvorhersage ausgerichtet. Trotz erheblichen Forschungsaufwandes wurde man in Kalifornien von den nächsten Erdbeben überrascht. Daraufhin haben sich die Prioritäten in Richtung Vorsorge verschoben. Wichtig dabei ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Ingenieuren, Behörden und der Privatwirtschaft, um wissenschaftliche Kenntnisse auch in die Praxis umzusetzen.
In der EU ist Italien am stärksten erdbebengefährdet. Nach Angaben von Dr. Fabio Sabetta, stellvertretender Direktor des Nationalen Seismischen Dienstes, sind in Italien in den vergangenen 20 Jahren durch Erdbeben Schäden von 80 Mrd. Dollar entstanden. Mittlerweile seien etwa 3000 Städte nach ihrem Erdbebenrisiko klassifiziert und entsprechende Baustandards erlassen worden. Sie würden bei Neubauten auch weitgehend durchgesetzt. „Aber wir haben viele Altlasten“, räumt Sabetta ein.
In Richtung Vorsorge zielten auch die Aktivitäten der Vereinten Nationen während der jetzt zu Ende gehenden Internationalen Dekade zur Reduzierung von Naturkatastrophen (IDNDR). Das Genfer IDNDR-Sekretariat hat mit Unterstützung der japanischen Regierung ein Programm zur Reduzierung des Erbebenrisikos von Städten in Entwicklungsländern lanciert. Für neun Kommunen sind Szenarien für den Fall eines schweren Erdbebens entwickelt worden. Eine davon ist Izmir an der türkischen Westküste, mit über 3 Mio. Einwohnern, nach Istanbul und Ankara der drittgrößte Ballungsraum der Türkei (nicht zu verwechseln mit dem jetzt betroffenen Izmit). Diese Fallstudien, so die Hoffnung, sollen das Bewußtsein von Behörden und Bevölkerung für das Erdbebenrisiko schärfen. Philippe Boullé, der Direktor des Genfer Büros, rief dazu auf, überall eine „Kultur der Vorsorge“ zu entwickeln.
Um so merkwürdiger mutet es an, daß eine andere UN-Behörde Erdbebenvorhersage zur Verhinderung von Katastrophen propagiert. Die Abteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten hat ein 150 Seiten starkes Handbuch publiziert, in dem chinesische Autoren darlegen, geomagnetische Anomalien würden nicht nur Erdbeben, sondern auch Naturkatastrophen wie Taifune und Wolkenbrüche ankündigen. Der amerikanische Physiker Wallace H. Campbell vom World Data Center in Boulder, ein Spezialist für Geomagnetismus, hat das Papier einer vernichtenden Kritik unterzogen. Es entbehre jeder wissenschaftlichen Grundlage. Außerdem würden die Chinesen viele Fehlalarme unterschlagen. Die angeblich erfolgreichen Vorhersagen könnten ebensogut Zufallstreffer sein.
HANS DIETER SAUER
Knapp vier Wochen nach dem schweren Beben vom 17. August laufen in der Türkei die Aufräumarbeiten auf Hochtouren. Die Wissenschaft hat kein Patentrezept gegen solche Katastrophen: Obwohl die Region mit einem Netz von Meßinstrumenten überzogen ist, hatte es keine Warnsignale gegeben.
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