Kultur 22.09.2000, 17:26 Uhr

Im Rennen muss das Boot dann schweben

Ohne Spitzentechnologie wären die Olympischen Spiele schon lange nicht mehr, was sie sind. Doch in einzelnen Disziplinen wird bereits zurückgerudert, um die technische Entwicklung nicht ausufern zu lassen.

Früh am Morgen ist es, als Trainer Joerg- Lindner mit seiner Vierer-Mannschaft aufbricht, um zum Training an die Regattastrecke zu fahren. Seine Crew mit Andre Willms , Stephan Volkert, Andreas Hajek und Marco Geissler will am 24. September zum dritten Male hintereinander bei Olympia ganz oben auf dem Treppchen stehen.
Das Quartier der Ruderer liegt rund 50 km vor der australischen Metropole Sydney, ganz in der Nähe der Regattastrecke Penrith Lake, und am heutigen Freitag gilt es, die Hürde Halbfinale zu nehmen. Als sie in der Morgendämmerung des Mittwochs dieser Woche an der Regattastrecke ankommen, ist es kühl und windstill, im Dunst sieht man die Blue Mountains hinter der Regattastrecke liegen.
Ernsthaftes Training ist heute nicht mehr angesagt, es geht an die Feineinstellung des Bootes. Gold-gelb leuchtet der Bootskörper, eine reine „Rennziege“, in den ersten Sonnenstrahlen, die Außenhaut- ist aus hochwertigem Carbon und Kevlar und vor dem Start noch einmal mit Politur und speziellem Wachs bearbeitet worden. Jede Unebenheit wurde beseitigt, um den Widerstand im Wasser zu reduzieren. „Das Boot muss schweben, nur dann haben wir das Gefühl, wirklich schnell zu sein. Wenn es rauscht, dann stimmt es nicht, dann sind wir zu langsam oder es bilden sich Strudel, die uns bremsen“, so Andreas Hajek, mit 32 Jahren der Älteste und Erfahrenste der Crew.
„Wir haben im Laufe der Saison vieles ausprobiert“, erinnert sich Stephan Volkert, „aber wir sind dann doch wieder zu unserer alten Kiste zurückgekehrt, in ihr haben wir das beste Gefühl.“ Die „Kiste“, das ist ein Bootskörper von immerhin 12,89 m Länge und 0,46 m Breite.
Neben all der Technik kommt es vor allem auf das Gefühl an, und das sitzt bei den Ruderern nicht selten in den Pobacken. Rund 1 m rollen sie auf kugelgelagerten Sitzen durch das Boot, verlängern so ihren Hebelweg. Immerhin müssen sie insgesamt rund eine halbe Tonne bewegen, von denen die Ruderer selber gut 100 kg pro Mann mit ins Boot bringen. Exakt 52,2 kg wiegt das Boot, genau 200 g mehr als der internationale Ruderverband als Mindestgrenze festgelegt hat. „Mit ein paar kleinen Bleigewichten haben wir nachgeholfen, denn mit den modernen Materialien wäre es leicht möglich, ein solches Boot unter 50 kg zu bringen, ohne dass es unter den Ruderern bei der Belastung der Rennen zusammenbräche“, so Helmut Empacher.
Empacher ist Chef der gleichnamigen Werft aus Eberbach am Neckar, die rund 70 % aller in Sydney gefahrenen Ruderboote vom Einer bis zum Achter produziert hat. Die gelbe Farbe der Boote ist zum Markenzeichen geworden, viele Nationen schwören darauf, und die Medaillenstatistik spricht eine eindeutige Sprache. Einen Steinwurf von der Ruderstrecke entfernt hat Empacher ein Zelt aufgebaut, in dem er die Boote der Ruderer in Sydney wartet.
Wie ein rohes Ei heben die vier Ruder-recken jetzt ihr 30 000 DM teures Boot von der Stellage, holen die Skulls , zwei für jeden Ruderer. Die Skulls wiegen 1370 g, sind einstellbar auf eine Länge zwischen 288 cm und 294 cm, je nach Körperlänge der Ruderer. Fast einen Zentner Gewicht müssen die Blätter und Schäfte beim Durchzug durch das Wasser aushalten, ohne zu brechen. Gefertigt sind sie aus Carbon und Kevlar, diagonal gewickelt, um beim Durchzug Torsion zu vermeiden.
Gelagert sind die Skulls in einer Dolle am Ausleger, auch diese reinstes Hightech. Denn das Ruderblatt muss genau mit 8o Neigung ins Wasser eintauchen, damit es optimal in und aus dem Wasser gleitet. Stimmt dieser Winkel nicht, kommt es zum „Krebs“, zum Hängenbleiben im Wasser, die Fahrt wird gebremst und alle Medaillenhoffnungen sind dahin.
Angebracht sind die Dollen am Ausleger, eine Spezialkonstruktion des Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in der Nähe von Berlin. An früheren Auslegern brach sich das Wasser bei einer Welle, spritzte ins Boot und musste so als unerwünschtes Gewicht mitgeschleppt werden. Die neue Form, die nur die deutschen Ruderer und Ruderinnen benutzen, ist völlig abgerundet und verhindert einspritzendes Wasser sogar bei stärkeren Wellen. Und um ganz sicher zu gehen, können die Ausleger an Schrauben noch optimal eingestellt werden – je nach dem, wie lang sie aus dem Boot ragen, wie hoch sie über dem Wasser und wie weit sie vor oder hinter dem Ruderplatz stehen sollen. Alles eine Frage von wenigen, aber entscheidenden Millimetern.
Letzte Überprüfung, dann legt die Mannschaft vom Steg ab, Schlagmann ist Andre Willms. Sein rechter Fuß steckt in einem beweglichen Spezialschuh, über zwei Drähte ist er mit dem Steuer an der Flosse unter dem Boot – ebenfalls eine FES-Entwicklung – verbunden und kann so während des Rennens die Richtung korrigieren.
Ohne Hightech wären die Olympischen Spiele schon lange nicht mehr das, was sie sind, wobei in einigen Disziplinen allerdings schon „zurückgerudert“ wird, etwa bei den Rennrädern. Bei denen gelten seit dem 1. Januar neue Regeln: Der Rahmen muss wieder eine Diamantform haben, die Sitzposition der Fahrer, die in den letzten Jahren immer weiter nach vorn rutschte, ist jetzt festgeschrieben. Am sichtbarsten wird das neue Reglement bei den Raddurchmessern: Noch im letzten Jahr fuhr auch der deutsche Bahnvierer, der diese Woche ebenfalls auf Geschossen aus der Berliner FES-Schmiede Gold holte, mit kleineren Vorderrädern, ähnlich wie man sie bei Jan Ulrich beim Zeitfahren der Tour de France im letzten Jahr sah. Damit ist es jetzt vorbei, Vorder- und Hinterrad müssen gleiche Durchmesser haben.
Doch noch immer sind auch diese Räder Hightech-Teile der fortschrittlichsten Art. Gut 200 000 DM an Entwicklungskosten fraßen die sieben Räder aus kohlefaserverstärktem Kunststoff auf, die von den Spezialisten der FES für die deutschen Olympiaradler entwickelt wurden. Sie sind extrem verwindungssteif und gerade mal 7 kg schwer.
Doch Hightech regiert auch hinter den Kulissen. Die elektronischen Fäden dieser Spiele hält IBM fest in den Händen. Seit 40 Jahren ist das US-Unternehmen für die Informationsverarbeitung der Spiele zuständig, von den internen Netzwerken bis zur Olympia-Hompage. 1996 in Atlanta brach das System, das die Wettkampfergebnisse übertrug, kurzfristig zusammen, für diese Spiele hat IBM Besserung gelobt.
Aber die Anforderungen sind explodiert. Gut sechs Milliarden Besucher werden auf der offiziellen Homepage der Spiele (www.olympics.com) erwartet, 10 mal mehr als 1998 bei den Winterspielen in Nagano und 32 mal mehr als bei den Spielen in Atlanta.
Überall auf dem Gelände des Olympischen Dorfes stehen zudem gut 60 kleine Surf Shacks von IBM, von denen aus die Athleten online gehen und ihre E-Mails verschicken können.
Draußen auf der 2000 m langen Rennstrecke nimmt der deutsche Vierer derweil Fahrt auf. Damit Andre weiß, mit welcher Schlagzahl er fährt, ist unter seinem Rollsitz ein kleiner Rechner mit Display angebracht, der die Anzahl der Schläge pro Minute und die Rennzeit angibt. 50 Schläge sollen es nach dem Start sein, dann über die Strecke rund 35 und am Ende nochmal hoch bis weit über 40, so möchte es Trainer Lindner gerne im Rennen sehen, damit sie dahin kommen, wo sie hinwollen – ganz oben aufs Treppchen. ARNO BOES/moc

Ein Beitrag von:

  • Arno Boes

  • Wolfgang Mock

    Redakteur und Reporter VDI nachrichten. Fachthemen: Wissenschafts- und Technologiepolitik, Raumfahrt, Reportagen.

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