„Hier entsteht etwas wirklich Großes!“
der Large Hadron Collider. Mit diesem Teilchenbeschleuniger wollen Physiker klären, woher die Bausteine der Natur ihre Masse beziehen und woraus die dunkle Materie im Kosmos besteht. Dafür baut ein Heer von Ingenieuren und Technikern eine riesige Maschinerie.
Nehmen Sie lieber den Helm ab“, bittet Siegfried Bethke seine Besucher. Er steht auf einem kleinen Metallbalkon, unter dem ein 85 m tiefer, schwindelerregender Schacht gähnt. Am Boden des Schachts ameisengleich dutzende von Technikern, die an einem monströsen, mehrgeschossigen Koloss aus Zylindern und wulstigen Röhren schweißen. Ein herunterfallender Helm könnte Arbeiter ernstlich verletzen.
Doch das ist nicht Bethkes einzige Sorge. Der Direktor am Max-Planck-Institut für Physik in München denkt auch an die milliardenteuren Forschungsgeräte, die dort unten zusammengebaut werden. Denn hier, tief unter der Erde in der Nähe von Genf, entsteht eines der größten technischen Bauwerke, das je von Menschen ersonnen wurde: der Large Hadron Collider (LHC) – ein gewaltiger Teilchenbeschleuniger. Betreiber ist das Europäische Kernforschungszentrum Cern.
Mit Hilfe des LHC wollen Wissenschaftler wie Bethke einige der letzten Rätsel der Natur lüften.
Der Lastenaufzug rauscht leise in die Tiefe, es geht durch mehrere Türen, vorbei an dem wulstigen Koloss, den man oben von der Aussichtsplattform sehen konnte. Dann schlängelt sich der Max-Planck-Direktor an den oft tonnenschweren Komponenten vorbei, die auf ihren Einbau warten, biegt um Betonwände, bis er schließlich in dem gigantischen Ringtunnel des Beschleunigers steht.
Gut 27 km ist dieser Tunnel lang und sieht aus wie eine zu klein geratene U-Bahnröhre. Durch das 50 m bis 175 m unter der Erde liegende Rund sollen im kommenden Jahr atomare Teilchen – Protonen oder Blei-Ionen kreisen.
Fast mit Lichtgeschwindigkeit rasen diese Teilchen in dem unterirdischen Ring in zwei vakuumisolierten Röhren jeweils in entgegengesetzter Richtung. An vier Stellen im Ring – in den so genannten Detektoren – prallen sie aufeinander: Die Teilchen, die dabei entstehen, sind das, was die Wissenschaftler interessiert.
Der wulstige Koloss aus Rohren und Zylindern ist der Atlas-Detektor, zugleich der größte der vier Detektoren am LHC. Er hat die Ausmaße eines Mehrfamilienhauses – 46 m lang, 25 m hoch und ebenso breit. Schon jetzt wiegt er ungefähr so viel wie der Pariser Eiffelturm. Er steht in einer unterirdischen Kaverne, in der eine Kathedrale Platz fände. „Hier entsteht im wahrsten Sinne etwas Großes“, so Bethke.
Bethke ist nur einer der 1800 Forscher von 150 Universitäten aus 34 Ländern, die an Atlas arbeiten.
Atlas ist ein Universaldetektor, genau wie sein Pendant, CMS, der sich auf der gegenüberliegenden Seite des Tunnelrings befindet. Beide sollen nach so genannten Higgs-Bosonen fahnden. Mit diesen hoffen die Wissenschaftler eine Antwort auf die Frage zu finden, warum die Elementarteilchen unterschiedliche Massen haben. Denn nach dem heute gültigen Standardmodell dürften die Elektronen oder Quarks, aus denen Protonen oder Neutronen bestehen, eigentlich gar keine Masse besitzen.
Zugleich versuchen die Experimentatoren, ein weiteres Rätsel zu lösen: Gibt es supersymmetrische Teilchen, eine Gattung unbekannter Bosonen und Fermionen?
Gefunden hat sie noch niemand, die mathematischen Modelle der Physiker aber legen sie nahe. „Es muss sie geben“, hofft Michael Kobel, Physiker an der Technischen Universität Dresden, der ebenfalls am Nachweisgerät Atlas arbeitet. „Ansonsten bräche für uns ein physikalisches Weltbild zusammen.“
Ließe sich eine Spur dieser exotischen Teilchen finden, wären sie zudem aussichtsreiche Kandidaten für die Lösung eines Problems, das den Astrophysikern seit geraumer Zeit Kopfzerbrechen bereitet: der dunklen Materie. Niemand weiß bisher, woraus sie besteht, obgleich sie offensichtlich unsere Galaxien zusammenhält.
Die beiden anderen Experimente konzentrieren sich auf nicht weniger komplexe Vorstellungen. So sucht eines beispielsweise Antworten auf die Frage, warum es im Universum mehr Materie als Antimaterie gibt. Das andere simuliert die Geburt des Universums. „Wir wollen das Quark-Gluon-Plasma untersuchen“, erläutert Jürgen Schukraft, „denn aus einer ähnlichen Zusammenballung ist vor gut 14 Mrd. Jahren unser Weltall entstanden.“
Doch erst einmal muss der Ring fertig gestellt werden. Überall in dem unterirdischen Tunnel wird gearbeitet. Auf Fahrrädern radeln Ingenieure und Techniker durch das schier endlose Rund. Im Akkord platzieren sie eine Komponente nach der anderen im Tunnel: Magnete, Zuleitungen, Kabel.
Alle tragen sie Sauerstoffmasken griffbereit um die Schultern. Denn ungefährlich ist die Arbeit nicht: Treten Gase wie Stickstoff, Argon oder Helium aus, die zur Kühlung etwa der supraleitenden Magneten benutzt werden, ist eine rasche Flucht aus der langen Röhre trotz Fahrrad kaum möglich.
Ende kommenden Jahres sollen die ersten Teilchen durch den Beschleuniger rasen. Dann wird der LHC weltweit das mit Abstand leistungsstärkste Forschungsgerät seiner Art sein. Protonen mit der ungeheuren Energie von sieben Tera-Elektronenvolt werden dann in den Detektoren zusammenprallen. „Die Dynamik der einzelnen Projektile entspricht zwar nur der Bewegungsenergie von Mücken“, behauptet Physiker Kobel, „zusammen erreichen sie die Wucht einer Elefantenherde.“
Um diese Gewalten im Zaume zu halten, besitzt der LHC tausende von starken Magneten. Sie werden mit suprafluidem Helium auf einer Temperatur von 1,9 K (-271 °C) über dem absoluten Nullpunkt gehalten. „Bei diesen Temperaturen verlieren die Magnete ihren elektrischen Widerstand und erreichen Feldstärken von 8,3 Tesla“, erklärt Klaus Barth, der verantwortlich ist für den Betrieb von Kälteanlagen und Magnettests am LHC. Das ist das Drei- bis Vierfache von Kernspintomografen in der Medizin. „Wir schicken einen Strom von 13 000 A durch die Windungen. Wenn wir da normales Kupfer nähmen, würden die tonnenschweren Magnete im Bruchteil einer Sekunde schmelzen“, so Barth.
Während über 1000 Dipol-Magnete die Teilchen auf eine Kreisbahn zwingen, bündeln Quadrupole den Strahl, der in Form kurzer Pakete durch die Vakuumröhren rauscht. Quadrupole wirken als magnetische Linsen und quetschen die Teilchenbündel vor den Detektoren wie Atlas so eng zusammen, dass es zu möglichst vielen Treffern kommt.
„Wenn alles erst einmal läuft, kommen in den Detektoren pro Sekunde genug Informationen an um eine komplette CD damit zu füllen“, kalkuliert Bernd Panzer-Steindel, Area Manager der Computing Fabric des Cern. „Aufs Jahr gerechnet entspricht das etwa dem Informationsgehalt aller Zeitungen und Bücher, die weltweit gedruckt werden“, behauptet er.
Trotz Supraleitung schluckt die Maschine gut 120 MW, wenn sie unter Volllast läuft. Das entspricht der Leistung eines mittleren Kraftwerks.
Und hier kommt auch Spitzenforschung schnell an ihre finanziellen Grenzen: Im Winter, wenn der Strom teuer ist, wird der Beschleuniger einige Monate stillstehen. Dann ist Zeit für Reparatur- und Wartungsarbeiten.
GERHARD SAMULAT
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