„Heutigen Industrieriesen droht das Schicksal der Dinosaurier“
Aktuell etablierte Firmen verlieren morgen zwangsläufig an Bedeutung.
Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts lag die Fertigung von Radios in den USA vor allem in der Hand eines Unternehmens: der Radio Corporation of America (RCA). Der Elektronikkonzern produzierte große, holzverkleidete und mit Vakuumröhren bestückte Empfangsgeräte. Die Zielgruppe war klar umrissen: Ehepaare mit Haus und Vermögen. Nur sie konnten sich die wuchtigen Möbelstücke leisten und aufstellen. Beliefert wurden die Endkunden von einem festen Netzwerk von Einzelhändlern, die sich im Schadensfall auch um eine Instandsetzung kümmerten.
Das Ende des RCA-Radio-Imperiums wurde 1947 mit der Erfindung des Transistors eingeleitet. „Im Vergleich zur Röhre hat dieses Verstärkungselement wesentliche Vorteile: Es ist kleiner, unempfindlich gegenüber Erschütterungen und dadurch insgesamt haltbarer“, so Graham Horton, Innovationsforscher an der Universität Magdeburg. „Für RCA waren diese Argumente aber irrelevant. Sie verstanden das Radio als Möbelstück. Größe und Erschütterungsresistenz spielten kaum eine Rolle. Und allzu robust sollten die Geräte gar nicht sein. Denn die angeschlossenen Händler pochten auf die Möglichkeit, ihren Umsatz durch Reparaturen zu erhöhen. Sie hätten sich gegen robustere Produkte gesperrt“.
Das damals noch unbedeutende Unternehmen Sony erkannte seine Chance. Es entwickelte das erste transportable Transistorradio. Frei von Vertriebszwängen adressierten die Japaner zunächst vor allem Jugendliche. Doch schnell erkannten auch andere Käuferschichten die Vorzüge der neuen Technologie. Am Ende verschwand die RCA vom Radio-Markt. Eine disruptive Innovation eines vermeintlichen Davids hatte den Goliath in die Knie gezwungen.
Ein vergleichbares Beispiel findet sich auch zu Anfang des 19. Jahrhunderts. „Damals baute sich der Bostoner Unternehmer Frederic Tudor ein Eis-Imperium auf. Aus gefrorenen Seen im äußersten Nord-Osten der Vereinigten Staaten ließ er gewaltige Blöcke heraus-schneiden und transportierte sie per Schiff bis nach Indien. Als Dämmmaterial diente Sägemehl. Um 1870 herum war die Eis-Industrie zu einem wesentlichen Bestandteil der US-Wirtschaft geworden. Neben den Erzeugern von Lebensmitteln wollten auch immer mehr Privathaushalte die Vorzüge des Kühlmittels genießen“.
Problematisch war der stark fluktuierende Eis-Preis. Im Norden der USA kostete die Tonne nur rund 8 $. In den Südstaaten wurden mitunter bis zu 125 $/t fällig. Genau hier aber wurde die größte Menge des frostigen Guts gebraucht. Entsprechend war hier – fernab des Marktführers – der Drang nach Alternativen am größten.
„Ein Arzt aus Florida hat dann eine Technologie entwickelt, die der heutigen schon sehr nahe kam“, so Horton. „Darauf basierend entstand schon 1868 die erste Eisfabrik in New Orleans. Der Marktpreis fiel schnell“.
Das Tudor-Imperium reagierte mit hohen Investitionen in seine Infrastruktur. Transportwege und Lagerhaltung wurden optimiert, das Marketing verstärkt. „Keiner aber kam auf die Idee, in die neue Technologie zu investieren. Statt dessen fuhren die Eis-Abbauer mit Vollgas in die Sackgasse“, so Horton.
Dieses Verhalten sei typisch. „Etablierte Firmen haben schließlich viel in ihr Wissen und ihre Maschinen investiert. Dies alles aufzugeben – zugunsten einer unsicheren Invention – kann von einem Manager kaum verlangt werden. Zumal der tobende Konkurrenzkampf seine gesamte Aufmerksamkeit verlangt“.
Auch in unserer Zeit sind vergleichbare Geschichten möglich. Laut Horton könnte Microsoft dasselbe Schicksal ereilen wie RCA und den Eis-Abbauern. „Deren Office-Produkte sind inzwischen sehr komplex. Kaum jemand benötigt alle enthaltenen Funktionen“. Die meisten Nutzer kämen durchaus mit den kostenlosen Lösungen aus der Open-Source-Bewegung zurecht. „In diesen Markt kann der Riese aus Redmond aber nicht einsteigen. Er würde sein Ertragsmodell gefährden. Statt dessen ist er gezwungen, stets neue Features zu entwickeln, um einen enger werdenden Expertenkreis zu bedienen. Ziel ist es, die eigenen Marktanteile zumindest zu behaupten“. Wolle Microsoft wachsen, müsse der Konzern bald neue Märkte erschließen.
Auch für den Einzelhandel kennt Horton ein Beispiel für eine marktverändernde Innovation. Möglich wurde sie durch die Aufhebung des Versandverbots für Arzneien. „Seit der Online-Anbieter DocMorris damit begonnen hat, Heilmittel per Post zu verschicken, wird die Apothekenlandschaft nachhaltig umgegraben“. Die bisherigen Platzhirsche seien jetzt gezwungen, ebenfalls einen zweiten Vertriebskanal zu öffnen. „Wer dies versäumt, etwa aufgrund eines zu starren Selbstverständnisses, wird über kurz oder lang massiv Marktanteil verlieren“. Horton ist überzeugt: „Von allein hätten die bisherigen Marktführer sich nicht auf die neue, kundenfreundliche Vertriebsschiene eingelassen“. Erst habe ein Außenseiter kommen müssen.
„Marktführer sind oft Geisel ihrer eigenen Erfolgsstrukturen. Darum tun sie sich schwer, sich für disruptive Innovationen zu entscheiden – selbst wenn sie die notwendige technische Kompetenz dazu besitzen“, fasst Hortin zusammen. „Wer mit disruptiven Technologien in den wichtigen Märkten von morgen präsent sein will, muss nicht nur die technologischen Innovationen beherrschen. Er muss auch offen sein für Selbstinnovationen“. Der zweite Punkt sei dabei oft erheblich schwieriger als der erste.
Den Einwand, dass das Gros der Innovationen im Automobilbereich von den wenigen Herstellern bzw. deren Zulieferern entwickelt wird, lässt Horton nicht gelten. „Der Airbag beispielsweise war sicherlich ein Meilenstein in der Sicherheitsausrüstung von Fahrzeugen. Eine disruptive Innovation war er aber nicht. Er eröffnet schließlich keinen neuen Markt“. Der Luftsack sei lediglich eine „erhaltende Innovation“. Er sei von den Marktführern eingeführt, um Marktanteile zu behaupten. Eine mögliche disruptive Innovation im Fahrzeugbau könne das erste marktfähige Elektroauto sein. „Ich wette, dass das nicht von Audi, Mercedes oder BMW entwickelt wird. Start-ups oder Seiteneinsteiger, etwa aus dem Elektronik- oder Energiebereich, werden hier die Nase vorn haben“.
S. ASCHE
Prof. Graham Horton ist Innovationsforscher und Leiter des Lehrstuhls für Simulation an der Universität Magdeburg. Außerdem ist er Mitgründer der Zephram GbR. Die Gesellschaft unterstützt andere Unternehmen bei der Generierung und Bewertung von Ideen. Zu den Kunden zählen u.a. SKF, BASF, Siemens und BMW.
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