„Die deutsche F&E muss noch produktiver werden“
VDI nachrichten, Aachen, 3. 11. 06, rus – So wie „Lean Production“ die industrielle Fertigung revolutioniert hat, kann „Lean Innovation“ Forschung und Entwicklung verändern. Dies ist nach Ansicht von Günther Schuh, Professor an der RWTH Aachen und Direktor des dortigen Werkzeugmaschinenlabors (WZL), auch notwendig, um eine Verlagerung von wissensintensiven Arbeitsplätzen ins Ausland zu verhindern.
Schuh: Während es in der Produktion in den letzten fünf Jahren deutliche Steigerungen der Effektivität durch Lean Production gegeben hat, hat sich die Forschung und Entwicklung in Deutschland nur verhältnismäßig wenig verbessert. Hinzu kommt, dass Unternehmen heute zunehmend eine globale Wertschöpfung aufbauen und die Beiträge der Produktion weltweit auf diejenigen Standorte verteilen, die dazu jeweils am besten in der Lage sind.
Forschung und Entwicklung deutscher Unternehmen lässt sich in vielen Disziplinen nicht genauso leicht verlagern. Wenn auf die Verlagerung der F&E verzichtet wird, müssen stattdessen deutliche Steigerungen der Effektivität von Entwicklungsprozessen erreicht werden.
VDI nachrichten: Die F&E in Deutschland hinkt in Ihren Augen hinter der Produktion zurück?
Schuh: Unsere aktuelle Studie „Mit Lean Innovation zu mehr Erfolg“ zeigt, dass erst ein Drittel der produzierenden Unternehmen in Deutschland erste Optimierungsprojekte zur Produktivitätssteigerung der F&E im Sinne des Lean Development angestoßen haben. Die übrigen Unternehmen haben entweder noch gar keine Bestrebungen in Richtung Lean Management in der F&E oder tragen sich mit ersten Projektideen im konzeptionellen Status. Entsprechend begnügen sich westliche Automobilhersteller oft noch mit viel längeren Entwicklungszeiten als z. B. Toyota. Dabei ist erschwerend das Begriffsverständnis für ein Lean Management in der F&E in Deutschland noch sehr heterogen geprägt. Teilweise wird „Lean Development“ als Methodensammlung verstanden, teilweise werden „Successful Practice“-Beispiele beschrieben, teilweise wird eine kulturelle Ausprägung bezeichnet.
Es fehlt das Verständnis eines ganzheitlichen Lean Innovation Managements, vergleichbar mit der Bewegung der Lean Production bzw. des Lean Manufacturing.
VDI nachrichten: Was sind die Ursachen für diese Situation einer F&E, die in ihrer Entwicklung hinter der Produktion zurückbleibt?
Schuh: Es gelten für die Entwicklung nun mal andere Regeln als für die Produktion: Im Vergleich zur Produktion sind die Forschung und die Produktentwicklung mit höheren Unsicherheiten der Prozesse behaftet, eine Detaillierung der Aktivitäten ist vorab nur begrenzt sinnvoll oder überhaupt möglich.
Die Innovation und die Produktentwicklung können nicht effizient als rein sequenziell ablaufender Prozess gemanagt und vorgeplant werden. Die Strukturierung von Innovations- und Entwicklungsprozessen muss dieser Besonderheit Rechnung tragen. Auf Seiten der Mitarbeiter sind durchschnittlich höhere intellektuelle Fähigkeiten als in der Produktion erforderlich.
In Summe bewirken diese Faktoren, dass die Identifikation von Verschwendung in der F&E sehr viel schwieriger ist, als in der Produktion.
VDI nachrichten: Was sind denn die Ansatzpunkte zur Übertragung des Lean Managements auf die Forschung und Entwicklung?
Schuh: Eine Verengung der Sichtweise auf Kostenreduzierung, die dem Lean Management häufig zu unrecht vorgeworfen wird, ist sicherlich nicht die Lösung. Vielmehr geht es darum, auf der einen Seite mit effizienteren Prozessen sowohl die Kosten als auch die Entwicklungszeiten zu senken, um eine frühere Erschließung der Märkte zu erreichen.
Schon in der viel zitierten MIT-Studie „The machine that changed the world“ wurde von den Professoren Womack und Jones neben der Produktion auch die äußerst effiziente und flexible Produktentwicklung als weiterer Grund für den Unternehmenserfolg von Toyota beschrieben. Auf der anderen Seite ist eine deutlich stärkere Fokussierung auf den Kundennutzen notwendig. Das heißt, nicht nur eine hohe Funktionalität ist nötig, sondern eine gezielte Funktionalität, für die der Kunde auch bereit ist, Geld auszugeben.
VDI nachrichten: Was sind die wichtigsten Elemente für produzierende Unternehmen, um heute Lean Innovation umzusetzen?
Schuh: Das von uns entwickelte Modell der Lean Innovation baut auf sechs Leitlinien auf. Besonders wichtig sind dabei die deutlich verstärkte Verankerung der Kundennutzenorientierung sowie der Prozessorientierung in der Produktentwicklung.
In Entwicklungsabteilungen wird noch zu viel Zeit mit der Konstruktion komplexer Features verbracht, die den Kundennutzen nicht proportional zum Aufwand erhöhen.
Unternehmen müssen vermehrt dafür sorgen, dass ihre Entwickler die Gegebenheiten kennen, unter denen Kunden die Produkte kaufen und einsetzen. Da dies oft nicht der Fall ist, wird sich einfach – als missverstandene Kundenorientierung – am Wettbewerb orientiert, und am Markt werden Produkte eingeführt, deren Innovationswert den Kunden gar nicht bewusst ist.
VDI nachrichten: Worauf kommt es bei der Prozessorientierung in der Lean Innovation an?
Schuh: Das vorrangige Ziel der erhöhten Prozessorientierung in der Lean Innovation ist ein kontinuierlich getakteter Fluss in der Produktentwicklung nach dem Vorbild der Wertstromoptimierung im Lean Manufacturing. Die gleichmäßigen Takte sind quasi „Etappenziele“ für die Produktentwicklung der Fokus aller Beteiligten muss zukünftig auf der Einhaltung des Taktes liegen. Alle Störfaktoren der Einhaltung eines gleichmäßigen Taktes müssen so weit wie möglich in den Griff bekommen werden. Wie im Toyota Produktionssystem, wo jeder Werker das Band stoppen kann, ist dann auch eine „virtuelle Reißleine“ vorstellbar, die bei aufgetretenen Unregelmäßigkeiten oder Fehlern den Takt offiziell stoppt und die Vorgänge anhält. Der Effekt besteht darin, dass der Fokus aller Beteiligten unmittelbar auf die aufgetretenen Fehler gerichtet wird und technische Unsicherheiten direkt adressiert und gelöst – und nicht etwa übergangen – werden.
VDI nachrichten: Welchen Nutzen versprechen Sie sich von der Entwicklung der Lean Innovation?
Schuh: Was wir wollen, ist eine Revolution, vergleichbar der, die durch Methoden des Lean Managements in der Produktion erreicht worden ist.
Letztlich geht es um Quantensprünge sowohl in der Effizienz als auch im Nutzen der F&E. Da sich technisch gute Produkte kopieren lassen, ist es für deutsche Unternehmen umso wichtiger, durch exzellente Prozesse den entscheidenden Vorsprung zu erzielen.
Auf unserem 3. Lean Management Summit vom 8. bis 10. November in Aachen werden Unternehmen von ihren Erfahrungen auf diesem Weg berichten, so dass sich für interessierte Unternehmen die Möglichkeit ergibt, von den Erfahrungen auf diesem Weg zu lernen. F. GIEHLER
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