Die Bringpflicht der Ingenieure
Ende letzten Jahres legte Christoph Hubig als Vorsitzender einer vom VDI-Präsidium ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe ein erstes Konzept für einen Ethik-Kodex vor. Derzeit diskutieren die Gremien des Vereins das zwei Seiten umfassende Papier, das als Report 31 veröffentlicht wurde.
Als Christoph Hubig den Vorsitz über den Arbeitskreis Mensch und Technik übernahm, galten Leitbilder als hervorragende Konzepte. In einer Gesellschaft, in der es keine allgemein verbindlichen Werte mehr gibt, sollten sie Orientierung bieten. Diesen Anspruch machte sich auch der VDI zu eigen. In der Diskussion um die Verantwortung der Ingenieure plädierte der damalige Vorsitzende des Berufspolitischen Beirats, Kurt Detzer, Anfang der 90er Jahre für ein abgestuftes System von Leitbildern, das sich aus dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung ergibt.
Inzwischen zeichnet sich in der Wissenschaft ein Meinungswandel ab. Armin Grunwald, Physiker und Philosoph, hat bereits erhebliche Zweifel am Leitbild-Konzept angemeldet. „Leitbilder schälen sich erst mit der betreffenden Technik heraus“, sagt der Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruhe. Insofern können sie nicht zur Steuerung der Technikgestaltung dienen.
Auch Christoph Hubig ist vom Segen der Leitbilder nicht mehr so recht überzeugt. „Sie bieten zwar eine allgemeine Orientierung“, sagt der Philosoph, „aber in Konfliktsituationen helfen sie dem Individuum nicht.“ Da sei ein Ethik-Kodex sinnvoller.
Genau das hatte der VDI zuvor abgelehnt, unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass in Zeiten der Teamarbeit die Verantwortung des Einzelnen dahinschmelze. Ende letzten Jahres legte Hubig als Vorsitzender einer vom VDI-Präsidium ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe ein erstes Konzept für einen Ethik-Kodex vor. Derzeit diskutieren die Gremien des Vereins über das Papier. Der Kodex, so Hubig, appelliert an die „Bringpflicht der Ingenieure.“ Damit ist nicht allein die berufliche Sorgfalt gemeint, die auf Qualität, Sicherheit und Zuverlässigkeit der Produkte achtet. „Bringpflicht haben Ingenieure aufgrund ihres Fachwissens. Daraus entsteht eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft“, sagt der Philosoph. Es gehe aber nicht darum, dem Individuum allein die Last der Verantwortung aufzubürden, sondern darum, Strukturen zu schaffen, „die diese spezifische Verantwortung ermöglichen. Ethische Verantwortung betrifft auch Gesetzgeber, Unternehmen und Verbände“, so Hubig.
Mit diesem Argument will Hubig die bis dahin vorherrschende These von der Einflusslosigkeit des Einzelnen entkräften. Im Netz der Institutionen und auf der Basis klarer Regeln ist das Individuum sehr wohl handlungsfähig, meint er. Würde der VDI also einen solchen Kodex verabschieden, dann wäre ein erster Anker geworfen, an dem sich neue Strukturen festmachen könnten. Das könnten anonyme Hotlines sein oder Beratungszentren, Ehren- oder Schiedsgerichte sowie Kommissionen.
Der Zweck solcher Institutionen besteht darin, den Ingenieuren Schutz und Hilfe zu bieten, die in einen ethischen Konflikt geraten. Ein Beispiel: Ein Doktorand kommt bei seiner Doktorarbeit in einem Unternehmen zu dem Ergebnis, dass dessen Kläranlage fehlerhaft arbeitet. Unterrichtet er die Firmenleitung, muss er mit einem Veröffentlichungsverbot rechnen. Hält er sich nicht daran, verstößt er gegen innerbetriebliche Geheimhaltepflicht.
Gäbe es einen Kodex, könnte der Doktorand die einschlägigen Gremien des VDI, als Träger solcher Ethik-Institutionen, anrufen, vorausgesetzt, er ist selbst Mitglied des VDI. Es wäre dann die Aufgabe des Vereins, die Vorwürfe zu prüfen. Der junge Doktorand bliebe anonym, könnte seine Stelle behalten und hätte gleichzeitig seiner „spezifischen Bringpflicht“ Genüge getan. „Das nennen wir Umweg-Ethik“, sagt Hubig. Märtyrer sind nicht gefragt.
Hubig ist überzeugt, dass ein solcher Kodex erhebliche Wirkung auf die Gesellschaft hätte. Die Signale, die von einem Kodex ausgehen könnten, so Hubig, sind vielfältig. Der Gesetzgeber könnte in strittigen Fällen Bezug auf den Kodex nehmen, Gerichte könnten ihn bei der Urteilsfindung heranziehen und nicht zuletzt könnte er das allgemeine Technikverständnis prägen.
„Der Ingenieur achtet den Vorrang von Menschenrechten vor Nutzenserwägungen. In Konfliktfällen orientiert er sich vorrangig an der Human- und Sozialverträglichkeit“, heißt es im Entwurfstext. Sehr platt formuliert lässt sich dieses Technikverständnis auf einen Satz reduzieren: Technik muss dem Menschen dienen. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen, erstens die Hierarchie der Werte und zweitens die besondere Stellung der Verbraucher.
Die Hierarchie der Werte „ist beabsichtigt“, sagt Hubig, „Natur soll als Basis menschlichen Handelns gepflegt werden. Wie sonst wollen Sie definieren, was Natur ist, und was Kultur?“ Zudem wolle man sich mit diesen Formulierungen von anderen Ethik-Vorschriften abgrenzen, die der Arbeitsgruppe als zu schwammig erschienen.
Zweitens folgt aus dem Technikverständnis, dass technische Produkte so beschaffen sein müssen, dass die Konsumenten eigenverantwortlich damit umgehen können. Dazu gehören auch alle für den Gebrauch relevanten Informationen, fordert der Ethik-Experte. Ein Beispiel sei die „Kennzeichnung gentechnisch optimierter Lebensmittel“, schimpft Hubig. „Da z.B. das Herstellungsdatum der Supertomaten fehlt, erfahren die Verbraucher nicht alle relevanten Fakten.“ Folge: „Niemand kann einschätzen, ob wegen langer Lagerzeit der Vitaminverlust bereits eingesetzt hat“. HELENE CONRADY
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