Count-down mit
VDI nachrichten, Andenes, 4. 11. 05 – Mit einem Raketenexperiment im hohen Norden Norwegens wollen Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt ihr Spitzen-Know-how bei Wiedereintrittstechnologien ausbauen. Lange Erfahrung und eiserne Nerven machten aus einem beinahe gescheiterten Experiment doch noch den erhofften Erfolg.
So ähnlich könnte ein zukünftiges, wiederverwendbares Raumfahrzeug aussehen.“ Hendrik Weihs zeigt auf einen länglichen Flugkörper, der entfernt an einen Krokodilskopf erinnert. Allerdings hat er keine Rundungen. Seine Oberfläche ist kantig und besteht aus mehreckigen, flachen Hitzeschutzkacheln.
„Es ist lange bekannt“, ergänzt José Longo, „dass scharfkantige Hyperschall-Flugkörper eine viel bessere Performance im Flug zeigen als solche mit gerundeten Ecken wie das US-Shuttle.“
Die runde Nase und die runden Flügelkanten beim Shuttle sind ein Kompromiss, erläutert Longo, weil man keine Materialien kannte, die den extremen Temperaturen standhielten, die beim Wiedereintritt in die Atmosphäre an scharfen Kanten entstehen.
Doch die Shuttle-Technologie ist 30 Jahre alt und Wissenschaftler wie Weihs und Longo – beide Mitarbeiter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) – sind neuen Möglichkeiten auf der Spur.
Seit zwei Wochen bereiten sie gemeinsam mit einem Team von gut 30 DLR-Wissenschaftlern und Ingenieuren auf der nord-norwegischen Raketenbasis in Andenes den kleinen, kantigen Flugkörper, auch Shefex (sharp edge flight) Experiment genannt, auf seinen Flug in den Weltraum vor.
Was Shefex so innovativ macht, sind seine kantige Form und seine 25 Hitzeschutzkacheln. 20 davon sind aus einer dünnen Faserkeramik und stammen aus den Labors des DLR. Fünf stammen von der Industrie, darunter erstmals auch metallische Hitzeschutzkacheln.
Da sie eben sind und aufgeschraubt werden und nicht wie beim Shuttle gebogen und aufgeklebt, sind Herstellung und Einsatz solcher Hitzeschutzkacheln wesentlich preiswerter als etwa beim US-Shuttle. Gut 30 % der Kosten für einen Shuttlestart (500 Mio. Dollar) gehen in die Wartung des Hitzeschilds.
Shefex soll nun zeigen, dass neue Thermalschutzkonzepte für kostengünstige wiederverwendbare Raumfahrtsysteme möglich sind und dass scharfkantige Raumfahrzeuge durchaus eine Zukunft haben. 64 Sensoren messen Druck, Temperatur und Wärmefluss an den Hitzeschutzkacheln, zwei Kameras an Bord überwachen den Flug.
Draußen auf der Raketenbasis herrschen derweil Minustemperaturen, alles liegt unter einer geschlossenen Schneedecke. Der Himmel ist klar – doch für die nächsten Tage ist schlechtes Wetter angesagt.
Bis spät in die Nacht arbeiten die Wissenschaftler unter Hochdruck, zum Start wird eine Verkleidung über dem Shefex-Flugkörper befestigt.
Hinter dem Wiedereintrittskörper ist ein Rettungssystem angebracht mit Fallschirmen und einem Schwimmkörper. Denn die Wissenschaftler hoffen, Shefex aus der See bergen zu können. „Schön wäre „, so Weihs, „wenn wir sehen könnten, ob die Vorderkante des Flugkörpers beim Wiedereintritt gelitten hat.“ Bis zu 1600° C entstehen hier beim Wiedereintritt.
Die Rakete, die Shefex ins All bringt, besteht aus zwei Stufen, einer brasilianischen VS-30 als Unterstufe und einer amerikanischen Hawk. Sie sollen Shefex auf eine Höhe von knapp 240 km bringen. In der Schwerelosigkeit wird die Verkleidung des Wiedereintrittskörpers abgesprengt. Nach einem ballistischen Flug von knapp 7 min soll das Fluggerät mit fast siebenfacher Schallgeschwindigkeit wieder in die Atmosphäre eintauchen, zwei Minuten später ins Meer fallen.
„Was uns interessiert“, so Weihs, ist die Höhe von 90 km bis 40 km. Hier entsteht die größte Reibungshitze.“
Am nächsten Tag wird die komplette Rakete an der Startrampe befestigt und einmal aufgerichtet. Wieder werden sämtliche Systeme und das Funktionieren der Telemetrie-Antennen gecheckt.
Ein Test-Count-down läuft, am Himmel ziehen Wolken auf.
Am Abend dann die Entscheidung: Am nächsten Morgen, 6 Uhr beginnt der Count-down. Läuft alles rund, wird er drei Stunden dauern. „Wir wollen in jedem Fall bei Tageslicht starten, sonst nützen uns die Kameras an Bord der Rakete nichts“, so Longo.
Am Abend noch macht sich von Andenes aus ein Fischerboot auf den Weg. In gut 200 km Entfernung soll es den Flugkörper aus der See fischen.
Und dann beginnt ein Tag, „wie ich ihn nicht noch einmal erleben möchte“, so John Turner von der Mobilen Raketenbasis (Moraba) des DLR, die gemeinsam mit der norwegischen Raketenbasis für den Start der Rakete zuständig ist.
Schon vor sechs Uhr sitzen die Wissenschaftler hinter ihren Kontrollmonitoren, checken ihre Daten.
Gegen 10 Uhr nimmt das Schicksal seinen Lauf: Die Übertragung der Telemetriedaten fällt aus, fast zwei Stunden wird der Count-down unterbrochen.
Gut 25 Minuten vor dem Start ist erneut Schluss: Im Landegebiet der Rakete sind Fischkutter gesichtet worden, ein Patrouillenboot ist auf dem Weg.
Stunden dauert es, bis der Count-down weiterläuft. Drei Minuten vor dem Start dann die letzte Panne: Ein Mitarbeiter der Raketenbasis fährt mit dem Auto los, um sich den Start aus der Nähe anzusehen – und das, obwohl acht Minuten vor den Start kein Fahrzeug auf der Anlage mehr angelassen werden darf. Die Nerven der DLR-Wissenschaftler liegen blank.
Fast zehn Stunden nach Beginn des Count-downs ist es endlich soweit. Schnell wie ein Feuerwerkskörper röhrt die Rakete in den Himmel. Auf den Monitoren im Kontrollraum sieht man die Erde unter ihr verschwinden, doch dann ein neuer Schreck: Die Rakete gerät ins Trudeln, die automatische Kreiseplattform, die die Rakete stabilisiert, ist ausgefallen. Und die Telemetrie macht Probleme. Auf dem Monitor bricht immer wieder das Bild zusammen, das die Kamera zur Erde sendet.
Da kommt die große Stunde von John Turner. Obwohl der Bildschirm immer wieder ausfällt, kann Turner die Rakete per Hand steuern, senkt rechtzeitig die Nase, so dass sie fast wie geplant in die Erdatmosphäre eintaucht.
Nur der Fallschirm reißt ab, als er sich durch ein falsches Sensorsignal schon in 12 km Höhe öffnet.
Betretenes Schweigen bei den Wissenschaftlern. Dann die Nachricht, dass eine zweite Telemetriestation auf einem nahe gelegenen Berg sowohl die kompletten Sensordaten aus dem Shefex-Flugkörper als auch die Videosignale der Kameras empfangen hat.
Bis in den Abend sitzen die Wissenschaftler vor dem Video, analysieren den neunminütigen Flug, und sehen sich die Sensordaten an. Schnell kommt die Zuversicht zurück.
„Wir haben alles, was wir brauchen, sagt Weihs schließlich erleichtert, „das war ein voller Erfolg. Die Kacheln haben gehalten, die Daten sind perfekt. Der Verlust des Flugkörpers ist da nur ein kleiner Wermutstropfen.“
Auch José Longo ist zufrieden. „Mit diesem Flug haben sich die deutsche Forschung und die Industrie in der Hyperschalltechnologie zurückgemeldet. Ein Experiment mit einem derartigen Hitzeschild hat es weltweit noch nicht gegeben.“ W. MOCK
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