Fertigung 01.10.1999, 17:23 Uhr

Virtuelle Fertigung in der digitalen Fabrik

Eine Fabrik zu planen, wird immer schwieriger, denn in turbulenten Märkten ändern sich wichtige Einflußgrößen schnell. Mit Software wachsen nun die einzelnen Simulationen zusammen. Der Hersteller wird zum virtuellen Betreiber des Maschinenparks seines Kunden.

Bis vor wenigen Jahrzehnten mußten sich Militärstrategen und Fabrikplaner mit Sandkastenspielen begnügen, um ihre komplexen Abläufe durchzuexerzieren. Mit diesen grobschlächtigen Methoden konnten nur einige wenige, vorhersehbare Entwicklungen durchgespielt, aber nicht systematisch untersucht werden, welche Überraschungen in den Wechselwirkungen der Prozesse lauern. Deshalb funktionierten die Pläne nur höchst selten.
„Szenarien, die einen realistischen Vorgriff auf die Zukunft erlauben, weil sie in der Lage sind, viele unterschiedliche Faktoren und ihre Beziehung miteinander darzustellen, wurden erst möglich mit der Entwicklung leistungsfähiger Computer“, so beschreibt Dr. Jens Neugebauer vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) den Sprung zur modernen Simulationstechnik.
Ausgangspunkt für die Entwicklung von Simulationsprogrammen waren Probleme der Logistik oder des Materialflusses. Daher entwickelten die Software-Ingenieure umfassende Modelle. Wurden sie mit echten Firmendaten gefüttert, konnte realistisch durchgespielt werden, was passiert, wenn einzelne Parameter verändert werden.
Die Ergebnisse solch präventiver Optimierung deckten so erfolgreich Schwachstellen auf, daß die Simulationstechnik bald für alle Planer zum unabdingbaren Instrument wurde. Simulationstechnik ermöglicht ein virtuelles Ausprobieren einzelner Prozesse in der Fabrik, ohne auch nur ein Stück physikalisch zu bewegen. Selbst die aufwendigste Simulation ist günstiger als der geringste Umbau von Maschinen.
Die Vermeidung späterer Anpassungsprobleme bedeutet auch eine erhebliche Verkürzung der Anlaufphase. In Zeiten immer kürzerer Innovationszyklen wird für Unternehmen ein schnelles Reaktionsvermögen zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. „Die heute geforderte Flexibilität bei Planung, Entwicklung und Umsetzung von Produktionstechnik kann nur erreicht werden“, betont Jens Neugebauer, „wenn alle Prozesse durchgängig digitalisiert und miteinander verknüpft werden“. Moderne Rechnernetze bieten zwar inzwischen die Voraussetzung für eine vollständig digitale Fabrik. Aber: Die Maschinen können zwar miteinander reden, sie sprechen jedoch noch unterschiedliche Sprachen.
Heute gibt es eine Vielzahl von Software-Werkzeugen in einer Fabrik, um innerhalb der Prozeßkette einzelne Schritte zu unterstützen“, beschreibt Neugebauer die Defizite. „Es fehlt jedoch eine Plattform zur Verknüpfung der Einzelerkenntnisse zu einem Gesamtbild.“ Die Kommunikationsplattform „Digitale Fabrik“, die das IPA entwickelt, versucht daher mit den Komponenten Datenmanagement, interaktive Visualisierung, Ablaufsimulation und Workflow-Management eine Infrastruktur zur Unterstützung des gesamten Planungs- und Entwicklungsprozesses aufzubauen. Besonders wichtig wurde in den letzten Jahren die Verkürzung des Entwicklungsprozesses. Fehler oder Verzögerungen in der Entwicklung wirken sich direkt auf spätere Gewinnmöglichkeiten aus. Im Rahmen eines Rapid Product Development wurden in den letzten Jahren – ausgehend von CAD-Verfahren – eine Reihe von Techniken wie Rapid Prototyping und Virtual Prototyping entwickelt. 3-D-orientierte Werkzeuge wurden zu einem wichtigen Instrument für die Simulation von Roboter-Arbeitszellen und Bohr- und Fräsmaschinen.
Eine neue Qualitätsstufe wurde mit der virtuellen Realität geschaffen. In dieser vom Computer erzeugten Welt kann der Betrachter die unmittelbare Umgebung direkt erleben, in sie eingreifen und das virtuelle Geschehen verändern. Ein virtueller Raum, in dem Objekte gestaltet, verändert und validiert werden können. Entwicklung ist ein iterativer Prozeß mit vielen Rückkopplungen. Mit jeder dieser Schleifen wird das Produkt konkreter und detaillierter.
Die virtuelle Realität bietet dabei völlig neue Möglichkeiten der simultanen Entwicklung. Alle am Planungsprozeß Beteiligten können gleichzeitig an einem dreidimensionalen, realistischen Objekt arbeiten und mit den anderen ständig über die Fortschritte kommunizieren. Entfernungen spielen dabei keine Rolle.
„Langfristiges Ziel ist die Kommunikation in dezentralen, weltweit verteilten Strukturen zum Planen, Konzipieren, Entwerfen und Ausarbeiten“, beschreibt Jens Neugebauer die Perspektiven. Mit der Kommunikationsplattform »Digitale Fabrik« will das IPA ein Informationswerkzeug zum Management aller Fabrikprozesse entwickeln. Sie soll nicht nur verschiedene Teilsysteme kombinieren, sondern in ein System integrieren, das den gesamten Lebenszyklus von industriellen Anlagen erfaßt. Durch die Verknüpfung der virtuellen Realität mit einem Produktdatenmangementsystem wird es möglich, ein realitätsnahes Abbild einer Fabrik mit all ihren Abläufen und den sich in ihr bewegenden Elementen zu schaffen. In dem virtuellen Anlagenmodell können unterschiedliche Teilsysteme, wie etwa Fördertechnik oder Maschinensteuerung, bereits in frühen Phasen erprobt werden.
Ein weiterer Vorteil der virtuellen Produktion: Schulung und Training. Schon bevor die reale Fabrik gebaut ist, sind die Mitarbeiter mit allen Abläufen vertraut. „Auf diese Weise entsteht als neue Produktionsform die virtuelle Produktion, die ihrem Charakter nach eine virtuelle Maschine ist“, faßt Prof. Engelbert Westkämper, Institutsleiter des IPA, zusammen. Der Hersteller wird zum virtuellen Betreiber des Maschinenparks seines Kunden.
F. MILLER/KÄM
Ob Karosserierohbau bei Mercedes in Rastatt oder eine Logistiklösung in einem Verteil-zen-trum- der Post: Eine Kommunikationsplattform verbindet alle Bereiche, die digital simuliert werden.
In den Teilbereichen schon topfit: Bei der Planung und Entwicklung von Produktionstechnik können jetzt die einzelnen digitalen Pakete durch die Prozeßkette und über Schnittstellen hinweg weitergereicht werden.

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