Produktentwickler lernen den Tastsinn be-greifen
VDI nachrichten, Düsseldorf, 10. 9. 04 -Der Begriff „look and feel“ macht deutlich, worauf es bei neuen Produkten ankommt. Handys, Automobile und selbst Bierkisten sollen nicht mehr nur gut aussehen, sondern sich auch gut anfühlen. Designer und Entwickler brauchen deshalb Kenntnis über haptische Materialeigenschaften, die sie z. B. auf Messen wie der Materialica Ende September in München erfahren können.
Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit ist die Lehre vom Tastsinn – kurz Haptik – in der Industrieforschung zu einem der Topthemen emporgestiegen. So verzeichnet Dr. Martin Grunwald, Leiter des Haptiklabors an der Universität Leipzig, immer mehr Anfragen von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen. Er hat auch eine Erklärung dafür: „Der Sehsinn kann heute zu Recht als der am besten überforderte Sinn des Menschen verstanden werden.“ Auch für Susanne Lengyel macht der Tastsinn den Unterschied. „Beim Kauf eines Produktes wird der Mensch zwar zuerst durch die visuelle Wahrnehmung beeinflusst, doch gleich hiernach kommt der Wunsch, das Objekt der Begierde auch in die Hand zu nehmen“, so die Präsidentin des Verband Deutscher Industrie Designer (VDID).
Experten sind sich einig, dass die Auswahl von Materialien und Oberflächenbeschichtungen künftig weiter an Bedeutung gewinnen wird. Gerade beim Kauf per Internet wird für Susanne Lengyel der fehlende Tasteindruck bei der Kaufentscheidung oft zum Problem. „Man kann die Objekte hier nicht anfassen, was dazu führt, dass sich nachher oft Überraschungen in der Post finden“, so die Designexpertin. Die Sensoren des Tastsinns übermittelten dem Gehirn dabei schnell einen Eindruck: „Gefällt mir – gefällt mir nicht“. So erschließe sich für Käufer von Handys erst durch das Anfassen, wie sie in der Hand liegen, wie sie sich anfühlen, wie schwer sie sind und wie man sie mit einer Hand bedienen kann.
Gerade bei Produkten, die sich Käufer vorher im Geschäft ansehen, ist die Haptik bereits im Engineering-Prozess integriert. Beim Automobilhersteller Smart ist sie schon seit Beginn der ersten Fahrzeugentwicklung ein wichtiges Designkriterium. „Bereits beim ersten Modell, das heute als ForTwo bezeichnet wird, hat man bewusst viel Stoff im Interieur eingesetzt, um ein haptisches Erlebnis zu realisieren“, erinnert sich Designer Georg Asal. Damit habe man ein Zeichen in der Branche gesetzt.
Zur Philosophie des Unternehmens sagt Asal: „Unsere Materialien sind ehrlich, denn sie fühlen sich so an, wie sie das Auge wahrnimmt.“ Dies sei nicht selbstverständlich, erklärt der Fachmann. So erwarte man von einem verchromten Kunststoff eher, dass das Material kühl ist, bekomme aber beim Anfassen einen ganz anderen Eindruck. „Kunststoffe sind eher warm, was bei uns mit einer samtigen Narbung auch haptisch unterstrichen wird“, macht Asal deutlich.
VDID-Präsidentin Susanne Lengyel beschreibt den Effekt beim Käufer: „Man streichelt das Auto, will z.B. das Wurzelholz fühlen und ist gerne bereit für das gute ,Anfühlen“ mehr Geld auszugeben.“ Die Designspezialistin weiß aber auch: „Die richtigen Informationen über Oberflächen zu erhalten ist meist gar nicht so leicht. Oftmals muss auf persönliche Erfahrung zurückgegriffen werden – oder es werden Vergleichsprodukte herangezogen.“ Beispielsweise böten große Unternehmen der Kunststoff erzeugenden Industrie in ihren Laboren Versuchsoberflächen an, um die haptische Qualität eines Kunststoffes zu bewerten.
Messen wie die K in Düsseldorf oder die Materialica in München sind für Susanne Lengyel eine weitere Möglichkeit, sich über Materialien und ihre Eigenschaften – auch haptische – zu informieren. Bei Smart geht man sogar noch einen Schritt weiter. Um dem Anspruch des Premium-Anbieters in diesem Bereich gerecht zu werden, orientieren sich die Haptik-Spezialisten auch auf diversen Trendmessen von der Architektur bis hin zur Möbelbranche. „Wir suchen gezielt nach Lösungen, die sich auch im Automobil umsetzen lassen“, beschreibt Designer Asal das Auswahlverfahren.
In der Industrie sucht man indes nach Lösungen, die tastbaren Materialeigenschaften messen und vergleichen zu können. Für die mikromechanische und funktionale Untersuchung hat z. B. die Firma Innowep aus Würzburg das hochauflösende Messgerät „Universal Surface Tester“ (UST) entwickelt. Die Besonderheit beschreibt der geschäftsführende Gesellschafter und geistige Vater Wolfgang P. Weinhold: „Das Gerät erlaubt die Messung von Funktionalkenngrößen statt von reinen Materialkennwerten wie z.B. der Härte.“ Damit ließen sich „erfühlbare Eigenschaften“ wie die Griffigkeit von Materialien prüftechnisch erfassen.
Als Einsatzbeispiel nennt der stellvertretende Geschäftsführer und Projektbetreuer Stefan Lehnert die Anpassung von Vorgaben der Wertanmutung, weil z.B. die Erwartungen an den Innenraum des Maybach sicher anders ausgeprägt sind als beim Polo. Der Ingenieur dämpft aber die Erwartungen: „Trotz hoher Auflösung des Messverfahrens ist aufgrund der hohen Varianz der Messparameter nur ein Vergleich der sensorischen Qualitäten basierend auf Referenzmaterialien wie z.B. Leder möglich.“ Innowep versuche ein gemeinsames Vokabular sowohl für den Designer als auch den Entwickler zu finden, eine allgemein gültige Gut-/Schlechtbewertung der Haptik werde jedoch auch in Zukunft kaum möglich sein.
Der Leiter des Haptiklabors, Dr. Martin Grunwald, freut sich über das zunehmende Interesse am menschlichen Tastsinn, beklagt aber zugleich das geringe Wissen, das über dieses größte Sinnessystem des Menschen zurzeit vorliegt. „Es wird noch viele Jahre dauern,“ so Grunwald, „bis wir annähernd verstehen, wie dieser gigantische Wahrnehmungsapparat funktioniert.“ So trügen schließlich auch Fragestellungen der Industrie dazu bei, die Forschungen in diesem Bereich voranzutreiben.MARTIN CIUPEK
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