Neuroprothese greift zu
die interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Wohle der Patienten zu verbessern.
Nach dem leichtsinnigen Sprung in den Baggersee war nichts mehr wie vorher: Der 21-jährige Bernd stieß mit dem Kopf auf dem Grund auf und ist seitdem querschnittgelähmt. Da seine Wirbel und das darin verlaufende Rückenmark im Halsbereich verletzt wurden, betrifft die Lähmung nicht nur die Beine, sondern auch Arme und Hände.
Bernd ist Tetraplegiker. Einfache Alltagsverrichtungen wie Essen, Trinken oder den PC bedienen sind ohne Unterstützung nicht möglich. In Deutschland gibt es rund 60 000 Querschnittgelähmte. Jährlich kommen 1800 dazu, 40 % davon sind Tetraplegiker.
Solchen Patienten möchte Dr.-Ing. Rüdiger Rupp, Leiter des Forschungslabors für Querschnittgelähmte an der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg, mit einer alltagstauglichen Armneuroprothese das Leben erleichtern. Funktionelle Elektrostimulation (FES) ist sein Arbeitsgebiet.
Die FES macht sich die Tatsache zunutze, dass von einem Nerven versorgte, gelähmte Muskeln von außen über elektrische Impulse zum Zucken gebracht werden können. Dies ist bereits seit dem 18. Jahrhundert durch Luigi Galvanis Experimente an Froschschenkeln bekannt.
1999 stellte ein Team um Rupp beim ersten Patienten in Deutschland mit dem Neuroimplantat „Freehand“ die Greiffunktion einer Hand wieder her. Acht Elektroden wurden dazu in einer mehrstündigen Operation an die Armmuskeln des Patienten implantiert. Gleichfalls implantiert wurde ein kleiner Nervenstimulator, der jedoch nicht über eine eigene Energieversorgung verfügt. Diese erfolgt über eine externe Komponente, die auch die Datenverarbeitung übernimmt.
Weltweit wurden 312 Freehand-Systeme implantiert, sieben davon in Deutschland, darunter drei in Heidelberg. Die Produktion der Greifneuroprothese musste allerdings 2001 eingestellt werden, weil die Firma Neurocontrol pleite war.
„Dabei sind die Ergebnisse sehr positiv. Einige Patienten konnten nach der Implantation ins Arbeitsleben zurückkehren, darunter sogar ein Kunstmaler“, berichtete Rupp auf dem Workshop „Medics meet Engineers“ , zu dem die Deutsche Gesellschaft für Biomedizinische Technik im VDE am 12. und 13. September nach Ludwigshafen eingeladen hatte. Allerdings sei das infrage kommende Patientenkollektiv sehr klein. Die Gelähmten müssen für die Implantation verschiedene Voraussetzungen erfüllen, unter anderem müssen die Nerven im Arm vollständig intakt und die Schulterfunktion auch für die Steuerung des Implantats erhalten sein. Und sie müssen hart trainieren.
Dafür beherrschen sie nach einem zehnwöchigen postoperativen Rehaprogramm aber auch zwei unterschiedliche Greiffunktionen der Hand, mit denen sie beispielsweise einen Becher oder einen Stift halten und bewegen können. Das Öffnen und Schließen der Hand wird mit einer Vorwärts- bzw. Rückwärtsbewegung der Schulter gesteuert, mit einem Schulterzucken rastet die Position ein.
Funktioniert die Schulter nicht mehr, kann künftig das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte „OrthoJacket“ weiterhelfen. „Die Motoren dieser Hybrid-FES-Orthese arbeiten nach einem bionischen Fluidik-Prinzip, das einer südamerikanischen Spinne abgeschaut wurde“, erklärte Rupp, der das System derzeit gemeinsam mit dem Forschungszentrum Karlsruhe entwickelt. Mit dem „aktiven Ärmel“, der unauffällig unter der Kleidung zu tragen sein soll, könnte erstmalig bei Lähmung des Armes inklusive Schulter die Armbewegung mit Greiffunktion wiederhergestellt werden.
Die Steuerung von „OrthoJacket“, wie auch von anderen Neuroprothesen, kann direkt vom Gehirn mittels einer Hirn-Computer-Schnittstelle (Brain-Computer-Interface, BCI) erfolgen. Dabei wird der Gedanke an eine bestimmte Bewegung mit technischen Hilfsmitteln in einen realen Bewegungsablauf umgesetzt.
Im Frühjahr dieses Jahres sorgten Affen, die sich mit einer Armprothese per Gedankenimpuls selbst fütterten, für Medienaufmerksamkeit. Die Arbeitsgruppe um Andrew Schwartz von der University of Pittsburgh in Pennsylvania hatte die Forschungsarbeit in der Fachzeitschrift „Nature“ vorgestellt. Die „Gedanken“ lesenden Elektroden waren bei den Affen direkt in den Teil des Gehirns, der die Bewegungen steuert, den Motorcortex, implantiert.
Auch der hochquerschnittgelähmte Amerikaner Matthew Nagle trägt ein Elektrodenarray im Gehirn, mit dem er den Cursor auf einem Computerbildschirm oder eine Handprothese bewegen kann. Die Firma Braingate entwickelte dieses System, das bis zur Marktreife noch Schwächen beseitigen muss: So verlieren die Elektroden ihre Funktionsfähigkeit mit der Implantationsdauer im Gehirn und der Patient bleibt bei der Bedienung des Systems auf fremde Hilfe angewiesen.
Rupp hat zusammen mit der Arbeitsgruppe um Prof. Gert Pfurtscheller von der TU Graz Patienten ebenfalls die Steuerung einer Neuroprothese mittels BCI ermöglicht. Allerdings pflanzten sie den Patienten die Elektroden nicht ins Gehirn. Denn Rupp hält dies für ethisch bedenklich: „Das Risiko ist hoch, dass das letzte, was den Patienten geblieben ist, ihr intaktes Gehirn, durch die Implantation in Mitleidenschaft gezogen wird.“ Doch die Datenübertragung mittels nicht implantierter BCI-Systeme ist noch sehr langsam.
Das neue Europäische Forschungsprogramm „TOBI“ (Tools for Brain-Computer-Interaction) soll BCI-Systeme alltagstauglicher machen. Rupp zeigt zwei mögliche Ansätze auf: Eine Verbesserung der externen Ableitung durch „Trockenelektroden“, die beispielsweise in eine Baseballkappe integriert werden, oder eine Implantation der Elektroden unter der Schädeldecke, also auf und nicht in das Gehirn.
Dies hat den Vorteil der schnelleren, gezielteren Ableitung bei gleichzeitiger Schonung der Nervenzellen des Gehirns. „Aus unseren Erfahrungen sind Implantate aufgrund ihrer besseren Alltagstauglichkeit externen Lösungen vorzuziehen“, so Rupp. „Allerdings müssen diese 100 %ig vom Körper toleriert werden und über lange Zeit fehlerfrei funktionieren.“ CAROLA PAHL
Ein Beitrag von: