Medizintechnik 19.11.1999, 17:23 Uhr

Mikrochip im Auge ersetzt Blindenstock

Neuroprothesen gelten als eine Herausforderung für deutsche Forscher. Seit fünf Jahren basteln sie an einem Mikrochip fürs Auge, der Blinde wieder sehen lassen soll. Nun zogen sie Bilanz über dieses ehrgeizige Projekt.

Die erste Förderphase ist beendet, nun müssen die Tüftler beweisen, dass die Erwartungen, die man in sie setzte, auch erfüllt werden. Ein künstliches Auge wollten sie schaffen, eine implantierbare lernfähige Sehprothese – das „Retina-Implant“. Nicht weniger als 13 Expertengruppen aus Biologie, Medizin, Informatik und Mikroelektronik arbeiten fieberhaft an der Entwicklung dieses Mikrosystems, das Blinden einmal das Augenlicht ersetzen soll.
„Vor allem für zwei bestimmte Augenerkrankungen entwickeln wir den Mikrochip“, erklärt Prof. Rolf Eckmiller, Neuro-informatiker an der Universität Bonn und Koordinator des gesamten Projekts. Zum einen eignet er sich für Patienten mit Retina pigmentosa, bei denen sich die Netzhaut langsam ablöst und so das Gesichtsfeld nach und nach zusammenschrumpft – wie in einem immer enger werdenden Tunnel. Und zum anderen ist er für Menschen mit Makula-Degeneration gedacht, bei denen die Makula, also der Ort des schärfsten Sehens, allmählich zugrunde geht. Hier schränkt sich das Sehfeld genau umgekehrt ein. Erst wird die Mitte des Bildes dunkel, dann nach und nach auch der Rest.
„Wir erwarten, dass Patienten mit einer solchen Erkrankung über das lernfähige Retina-Implantat zumindest größere Objekte wieder wahrnehmen und erkennen können“, hofft Eckmiller. Etwa 500 Mikrokontakte auf der Spezialfolie in der Netzhaut sollen den Implantat-Träger größere Gegenstände wie Fenster, Tür, Stuhl oder Tisch erkennen lassen. „Damit kann sich der Patient wenigstens wieder im Raum orientieren und weitgehend selbständig bewegen“, so Eckmiller. Und Dr. Helma Gusseck, Vorsitzende der Stiftung Pro-Retina Deutschland, übrigens selbst erblindet, bringt es so auf den Punkt: „Es geht ja nicht darum, dass Blinde plötzlich wieder die Zeitung lesen können. Aber ohne fremde Hilfe einen Spaziergang unternehmen zu können, das wäre für uns schon ein riesiger Fortschritt.“
Das gesamte System Retina-Implantat besteht aus verschiedenen Einheiten. Eine digitale Kamera, am Brillenrand installiert, nimmt die Umgebung auf und sendet die umgewandelten Daten durch den Glaskörper des Auges direkt auf die Netzhaut. Dort treffen die Lichtstrahlen auf eine hauchdünne implantierte Mikro-Kontaktfolie, die die geschädigten Photorezeptoren der Netzhaut ersetzt. Die Lichtsignale – auf der Folie von einem Spezial-Rechner, einem Retina-Encoder, umgewandelt in elektrische Impulse – stimulieren nun die noch intakten Ganglienzellen, deren Fasern in den Sehnerv münden. Über diesen erreichen die Reize das Sehzentrum im Gehirn und vermitteln ihm die Sehwahrnehmung.
„Prinzipiell sind wir mit der Entwicklung der einzelnen Komponenten schon sehr weit“, erläutert Eckmiller den Stand der Forschung. Die meisten Bausteine für eine erfolgreiche Umsetzung des Retina-Implantats seien funktionsfähig, beispielsweise die Komponenten zur Signal- und Energieübertragung oder auch die biokompatiblen Mikro-Kontaktstrukturen. Schon längst haben sie ihre technische Machbarkeit bewiesen. Am Zentrum für Augenheilkunde in Essen haben Mitarbeiter um Prof. Norbert Bornfeld zudem verschiedene Operationstechniken an Katzen und Kaninchen erprobt. Denn die Kontaktfolie muss so zwischen Netzhaut und Lederhaut befestigt werden, dass sie nicht gleich bei jeder Augenbewegung verrutscht.
Ausgesprochen schwierig war die Entwicklung des Encoders. Da die Empfangseinheit ihre Informationen nicht an einzelne Nervenzellen der Netzhaut weitergeben kann, muss der Rechner erst lernen, die Bilddaten so über die Folie an die darunter liegenden Zellen zu vermitteln, dass das Gehirn später aus den Nervensignalen ein Bild zusammensetzen kann. „Der Neuro-Computer muss für jede einzelne Schaltzelle der Netzhaut individuell die optimale Bildübersetzung entwickeln, die dann als Signal von der Folie weitergeben wird“, beschreibt Eckmiller das Problem. Aber im Grunde sei diese programmierte Lernfähigkeit nichts anderes als das Kinderspiel, bei dem man eine Person mit verbundenen Augen nur über die Befehle „heißer“ und „kälter“ genau an den richtigen Ort führt.
„Die Netzhaut ist schon ein fantastischer Neuroprozessor“, schwärmt Prof. Eberhart Zrenner von der Universitäts-Augenklinik Tübingen. Da sei es gar nicht so einfach, ein solches System nachzuahmen. Dennoch ist es den Wissenschaftlern gelungen, die lichtempfindlichen Zellen in Abstand und Durchmesser so auf dem Mikro-Chip anzuordnen, dass sie genau der Lage der lichtempfindlichen Zapfen auf der Netzhaut entsprechen.
„Unser großes Ziel bleibt natürlich das erste Experiment am Menschen unter klinischen und ethischen Gesichtspunkten“, umreißt der Bonner Neuroinformatiker die nächsten Etappen. Doch so eindrucksvoll die bisherigen Entwicklungen auch sind: „Es steht heute noch kein biostabiles Implantat zur Verfügung“, dämpft Prof. Kampik von der Universität München vorschnelle Erwartungen. Jedes Forschungsteam habe noch eine Menge Hausaufgaben zu machen, bevor an eine Operation am Menschen zu denken sei. BETTINA RECKTER
Mühsam ist das Lesen der Blindenschrift, die übrigens nur wenige beherrschen. Das Retina-Implantat soll Blinden vorerst wenigstens eine räumliche Orientierung erlauben.
Die Nahaufnahme der Mikro-Kontaktfolie zeigt die einzelnen lichtempfindlichen Zellen.

Ein Beitrag von:

  • Bettina Reckter

    Bettina-Reckter

    Redakteurin VDI nachrichten
    Fachthemen: Forschung, Biotechnologie, Chemie/Verfahrenstechnik, Lebensmitteltechnologie, Medizintechnik, Umwelt, Reportagen

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