Künstliches Knie mit Nervenkontakt – Gehen wie vor der Amputation?
Neues bionisches Knie am MIT: Direkter Nervenkontakt soll Amputierten ein natürlicheres Gehen und mehr Kontrolle ermöglichen.
Eine Person mit der neuen Prothese überwindet ein Hindernis auf ihrem Weg, indem sie ihr Phantomkniegelenk willentlich beugt und streckt. Steuersignale von den Restmuskeln des Knies werden verwendet, um eine Bewegung des motorisierten Prothesenkniegelenks zu erzeugen, die das Phantomknie nachahmt.
Foto: Courtesy of the researchers. Creative Commons BY-NC-ND 3.0 https://creativecommons.org/share-your-work/cclicenses/;
Foto: https://news.mit.edu/2025/bionic-knee-integrated-into-tissue-can-restore-natural-movement-0710
Eine kleine klinische Studie bringt Bewegung in die Entwicklung bionischer Prothesen. Zwei Menschen mit Oberschenkelamputation testeten ein neuartiges künstliches Knie, das direkt mit Nerven und Knochen verbunden ist. Ziel: mehr Stabilität, bessere Steuerung – und ein Schritt hin zur Integration in das Körpergefühl. Entwickelt wurde das System am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Die Ergebnisse klingen vielversprechend. Die Teilnehmenden konnten sich besser bewegen, schneller gehen, Treppen steigen und Hindernissen ausweichen. Vor allem aber berichteten sie von einem Gefühl, als sei das künstliche Bein ein echter Teil ihres Körpers.
Inhaltsverzeichnis
Vom Werkzeug zum Körperteil
„Eine gewebegegründete Prothese – die am Knochen verankert ist und direkt vom Nervensystem gesteuert wird – ist nicht nur ein lebloses, separates Gerät, sondern ein System, das sorgfältig in die menschliche Physiologie integriert ist“, erklärt Hugh Herr, Professor am MIT und Co-Direktor des K. Lisa Yang Center for Bionics. Der führende Entwickler dieser Technologie spricht nicht mehr von einem Werkzeug, sondern von einem „integralen Bestandteil des Selbst“.
Ziel ist es, künstliche Gliedmaßen nicht nur funktional, sondern auch neurologisch in den menschlichen Körper einzubetten.
Das Konzept: AMI trifft auf e-OPRA
Die Technik hinter dem neuen System ist ebenso komplex wie durchdacht. Es kombiniert zwei Verfahren:
- AMI (Agonistisch-Antagonistische Myoneuronale Schnittstelle): Ein chirurgisches Verfahren, bei dem Muskelpaare wieder miteinander verbunden werden. Das ermöglicht eine natürlichere Kommunikation im Stumpf.
- e-OPRA (Elektronisch erweiterte Osseointegration): Eine Titanstange wird in den verbleibenden Oberschenkelknochen eingesetzt. Über 16 Drähte überträgt das Implantat Signale direkt an ein robotisches Knie.
Durch diese Kombination entsteht eine osseointegrierte mechanoneurale Prothese – kurz OMP.

Das neue bionische Kniegelenk kann Menschen mit einer Amputation oberhalb des Knies dabei helfen, schneller zu gehen, Treppen zu steigen und Hindernissen leichter auszuweichen als mit einer herkömmlichen Prothese. Das neue System ist direkt in das Muskel- und Knochengewebe des Benutzers integriert (untere Reihe rechts). Dies sorgt für mehr Stabilität und gibt dem Benutzer deutlich mehr Kontrolle über die Bewegungen der Prothese.
Foto: Courtesy of the researchers; MIT News. Creative Commons BY-NC-ND 3.0
Wie funktioniert das Ganze?
In herkömmlichen Prothesen sitzt der Stumpf in einer Art Schaft. Dieses Prinzip schränkt Beweglichkeit ein, führt zu Reibung und oft zu Hautproblemen. Die neue Lösung umgeht diese Probleme vollständig.
Beim AMI-Verfahren werden Muskelpaare so rekonstruiert, dass sie sich wie vor der Amputation gegensätzlich dehnen und anspannen können. Dadurch entsteht ein kontinuierlicher Informationsfluss zwischen den Muskeln und dem Gehirn. Die Nerven wissen wieder, was der Muskel tut – und können entsprechend handeln.
Der zweite Teil, das e-OPRA-Implantat, stellt die Verbindung zur Mechanik her. Es sorgt für eine stabile Verankerung im Knochen und überträgt Signale aus dem Körperinneren an die Prothese. Umgekehrt sendet es auch Rückmeldungen zurück ins Nervensystem. Gesteuert wird das Ganze über einen eigens entwickelten Roboter-Controller.
„Alle Teile arbeiten zusammen, um Informationen besser in den Körper hinein und aus ihm heraus zu transportieren“, erklärt Tony Shu, Hauptautor der neuen Studie.
Studienaufbau und Vergleichsgruppen
Die klinische Studie bestand aus drei Gruppen:
- Zwei Probanden mit der neuen OMP-Prothese (AMI + e-OPRA)
- Acht Personen mit AMI, aber ohne Knochenimplantat
- Sieben Nutzer*innen herkömmlicher Prothesen
Alle Teilnehmenden bekamen die gleiche experimentelle Knieprothese, die motorisiert war und vom MIT-Team entwickelt wurde. Sie mussten verschiedene Aufgaben absolvieren: Gehen, Treppensteigen, Hindernisse überwinden, das Knie in einem bestimmten Winkel beugen.
Das Ergebnis: Die OMP-Nutzer*innen schnitten in fast allen Kategorien besser ab – besonders im Vergleich zur dritten Gruppe mit herkömmlicher Versorgung.
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Stärkeres Gefühl der Kontrolle
Neben den motorischen Aufgaben stand ein zweiter Aspekt im Fokus: das subjektive Erleben der Prothese. Die Forschenden wollten wissen, ob das künstliche Bein sich eher wie ein „eigenes Bein“ anfühlt.
Dazu erhielten die Testpersonen einen standardisierten Fragenkatalog. Sie sollten etwa bewerten, ob sie das Gefühl hatten, zwei Beine zu besitzen, ob sich die Prothese wie ein Körperteil anfühlte und ob sie sie intuitiv kontrollieren konnten.
Die beiden OMP-Teilnehmenden gaben signifikant höhere Werte an als alle anderen. Sie berichteten von einem wachsenden Gefühl der Identifikation mit dem Gerät – das künstliche Knie wurde zunehmend Teil ihres Selbstverständnisses.
Herausforderungen bei herkömmlichen Amputationen
Bei Standard-Amputationen werden oft Muskelverbindungen durchtrennt, die für die natürliche Bewegung wichtig sind. Die Kommunikation zwischen Muskeln und Nerven wird unterbrochen. Das macht es dem Gehirn schwer, die Bewegungen der Prothese präzise zu koordinieren.
Mit AMI und e-OPRA wird dieser Bruch teilweise repariert – sowohl elektrisch als auch mechanisch. Die Sensorik kehrt zurück, und das System wird insgesamt stabiler. Laut Shu ergibt sich daraus ein klarer Vorteil: „Wir belasten direkt das Skelett, also den Teil des Körpers, der belastet werden soll.“
Blick in die Zukunft
Derzeit ist das Verfahren noch experimentell. Doch die Entwicklung geht voran. Das AMI-Verfahren kommt inzwischen regelmäßig bei Unterschenkelamputationen zum Einsatz – etwa im Brigham and Women’s Hospital. Hugh Herr rechnet damit, dass auch Oberschenkel-Operationen mit AMI bald zur Routine werden.
Das kombinierte System aus AMI und e-OPRA – die OMP-Prothese – muss noch in größeren Studien getestet werden. Erst danach kann eine Zulassung durch die US-Gesundheitsbehörde FDA erfolgen. Herr schätzt, dass dieser Schritt innerhalb der nächsten fünf Jahre möglich ist.
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