Hörgeräte werden technisch immer besser
Wer schlecht hört, versteht auch schlecht. Doch neue technische Entwicklungen können den sozialen Kontakt zur Umwelt wiederherstellen, so die zentrale Botschaft des ersten internationalen Treffens der Hörgeräte-Industrie mit Interessenvertretern der Schwerhörigen in Brüssel.
Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Probleme von Schwerhörigen sei eines der Ziele des Kongresses „The World of Hearing“, betonte Valentin Chapero, Präsident des Verbandes der Hörgeräte-Hersteller und Chef der audiologischen Technik bei Siemens. Auf diesem ersten internationalen Treffen der Hörgeräte-Industrie mit Interessenvertretern der Schwerhörigen und Hörgeräte-Akustikern, das kürzlich in Brüssel stattfand, wurden neben technisch-wissenschaftlichen Fragen auch die Bedürfnisse der Betroffenen diskutiert.
Der soziale Kontakt zur Umwelt geht verloren. Gleichzeitig ist Schwerhörigkeit aber ein Problem, dessen Bedeutung ständig zunimmt. Denn die Welt wird nicht leiser, ganz im Gegenteil. Die komplizierten Strukturen des Innenohrs sind jedoch der zunehmenden Lärmbelastung nicht gewachsen und verlieren ihre Funktionsfähigkeit. So verwundert es nicht, daß Lärmschwerhörigkeit inzwischen mit 31 % den größten Anteil an den anerkannten Berufskrankheiten stellt. Nach Schätzungen des Deutschen Grünen Kreuzes leiden hierzulande rund 14 Mio. Menschen unter Hörproblemen, zum Teil schon in jugendlichem Alter. Dieser Zahl stehen laut Angaben der deutschen Fördergemeinschaft „Besseres Hören“ nur rund 2 Mio. Hörgeräte-Träger gegenüber.
Hörgeräte der jüngsten Generation sind ausgefeilte High-Tech-Produkte. Die Mikrosystemtechnik schuf die Voraussetzungen dafür, ein oder mehrere winzige Mikrophone mit einem Mini-Lautsprecher und einem Chip von der Rechnerkapazität eines leistungsfähigen Laptops auf wenigen mm zu kombinieren.
Neben der Miniaturisierung spielt auch die ständig verbesserte elektronische Datenverarbeitung in den Hörgeräten eine entscheidende Rolle. Die sehr individuelle Einschränkung des Hörvermögens muß so gut wie möglich ausgeglichen werden. Es genügt nicht, den ankommenden Schall einfach nur zu verstärken oder einzelne Frequenzen herauszugreifen. „Schwerhörigkeit bedeutet oft, daß der Kunde zwei aufeinanderfolgende Töne nicht mehr genau unterscheiden kann, die zeitliche Auflösung wird schlechter, die Sprache verschwimmt“, erklärt Horst Warncke, technischer Leiter bei der dänischen Firma Oticon, dem zweitgrößten Hörgeräte-Hersteller weltweit. „Oder die Hörbarkeit hoher Töne wird im Vergleich zu tiefen schlechter. Dann maskieren oder überdecken tiefe Töne die höheren. Der Betroffene hat den Eindruck, daß die Worte verschwommen und neblig wirken.“ Viele Konsonanten verschwinden dadurch beim Hörerlebnis.
Ein objektives Messen des Hörvermögens ist nur begrenzt möglich. Der Hörgeräte-Akustiker kann nur durch Gespräche und individuelle Veränderungen am Gerät die jeweils beste Einstellung des Hörgeräts ermitteln – ein langwieriger Vorgang, der viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl erfordert.
Schon vor längerer Zeit ist es gelungen, Hintergrundrauschen zu dämpfen oder unerwünschten Dauerlärm, etwa Verkehrsgeräusche, für den Hörgeräte-Träger auszublenden. Schwierig wird es jedoch immer dann, wenn das Hintergrundgeräusch ungefähr die gleiche Frequenz hat wie das Signal, das gehört werden soll. Die typische Situation hierfür ist ein Gespräch in einem vollbesetzten Restaurant. Man spricht vom sogenannten Cocktail-Party-Effekt. Der Schwerhörige kann dann seine Tischgenossen nicht mehr verstehen, da deren Sprachfrequenz sich kaum von der des Hintergrundgeräuschs unterscheidet. Eine Umfrage bei deutschen Hörgeräte-Trägern belegte, daß etwa 87 % der Betroffenen mangelnde „Sprachverständlichkeit in lärmiger Umgebung“ als das größte Handicap bezeichnen.
Der Schweizer Hörgeräte-Hersteller Phonak hat vor etwa 2 Jahren zur Lösung dieses Problems eine völlig neue Strategie eingeschlagen, Marktführer Siemens und Oticon zogen etwa ein halbes Jahr später nach. Phonak baute in sein fortgeschrittenstes Modell zwei Mikrophone ein: eines für die Aufnahme des Rundum-Schalls und eines als Richtmikrophon nach vorne. Man kann nun mit einer Fernbedienung zwischen drei Hörprogrammen hin- und herschalten: Fokussierung auf ein Gegenüber mit Hilfe des Richtmikrophons, Rundumschall oder eine Mischung von beidem. Inzwischen gibt es dazu auch noch ein externes Mikrophon mit einer Funkverbindung direkt zum Hörgerät, das hinter dem Ohr getragen wird.
Das Selbstbewußtsein der Betroffenen nimmt zu. „Bald werden Hörgeräte nicht mehr schamhaft versteckt werden, ebensowenig wie Brillen“, prophezeit Peter David Schaade, Chef der deutschen Phonak-Niederlassung. Einen ersten Schritt haben manche Hersteller schon getan, indem sie ihren Geräten ein farbiges und modisch ansprechendes Design verpaßten.
Schaade ist überzeugt, daß „Hörgeräte das Hören so verbessern werden, daß auch der Normalhörende in bestimmten Situationen darauf nicht mehr verzichten wird. Und sie werden in einigen Jahren so viel Zusatznutzen bieten, daß jeder sie haben will. So läßt sich daran denken, ein Radio zu integrieren oder gar ein Telefon.“ Oder ein Gerät gegen Tinnitus, wie man die unerwünschten Geräusche im Ohr nennt, unter denen rund 2,7 Mio. Deutsche leiden. Das störende Ohrgeräusch wird durch individuell einstellbare Töne maskiert, der Patient verliert sozusagen das Interesse daran. Das Gerät soll bereits im Herbst 1999 auf den Markt kommen.
BRIGITTE RÖTHLEIN
Dieses kleine, digital programmierbare Mehrkanal-Hörgerät wird komplett im Hörkanal getragen und ist damit fast unsichtbar.
Kontakt zu Familie und Freunden ist für Schwerhörige besonders wichtig. Der Größenvergleich mit einem Stift verdeutlicht die Leistung der Mikrosystemtechnik.
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