Medizintechnik 07.04.2000, 17:24 Uhr

Chips und Elektroden bringen Gelähmte wieder auf die Beine

Die Pioniere der Neuroprothetik sind die Wunderheiler unserer Zeit. In interdisziplinären Teams bauen sie intelligente Hilfsmittel für Menschen, die Augenlicht oder Hörvermögen verloren haben oder gelähmt sind. Doch für die Patienten geht es immer noch nicht schnell genug voran.

Erst vor kurzem war er auf allen Fernsehkanälen zu sehen: Marc Merger, ein 39-jähriger Familienvater aus Straßburg, seit zehn Jahren querschnittgelähmt. Vor laufenden Kameras stand er aus dem Rollstuhl auf und machte, unterstützt durch einen Gehwagen, ein paar zögernde Schritte. Das Geheimnis seiner wundersamen Heilung auf Zeit: ein Chip, den ihm im Februar Ärzte von der Universität Montpellier eingepflanzt hatten, um seine noch funktionsfähige Beinmuskulatur zu reizen.
eine Weltsensation sind Mergers Schritte nicht. Auch in Deutschland kann man solche kleinen Wunder bestaunen – zum Beispiel an der Neurologischen Klinik Bad Aibling. Dort arbeitet der Mediziner Dr. Jochen Quintern gemeinsam mit Kollegen vom Klinikum Großhadern und mit Ingenieuren der Technischen Universität München an einer intelligenten Neuroprothese, die Beingelähmten nicht nur das Aufstehen und Geradeausgehen, sondern in Zukunft sogar das Treppensteigen ermöglichen soll.
Einziger Unterschied zum französischen Projekt ist, dass in München den Patienten noch kein Chip eingepflanzt wird. Der Stimulator ist ein zigarrenkistengroßes Kästchen, das der Patient um den Hals oder in einer Weste trägt. Die Elektroden, die seine motorischen Nerven aktivieren, sind auf die Haut von Ober- und Unterschenkel geklebt. „Im Gegensatz zu implantierten Elektroden, die sich wie eine Manschette um die Nerven schmiegen, sind unsere Oberflächenelektroden Primitivlinge“, räumt Quintern ein. „Darin liegt sicher nicht die Zukunft, aber man kann schon viel damit erreichen.“
Per Video demonstriert er, wie rasch seine Patienten Fortschritte machen: Erst im stehenden Barren, dann im Gehwagen, schließlich nur noch von zwei Vierpunkt-Stöcken unterstützt, bewegen sich einige von ihnen bis zu einer halben Stunde mit Hilfe ihrer Neuroprothese auf den eigenen Beinen. Dennoch wiegelt Quintern ab: „Wer erwartet, er werde in kurzer Zeit den Rollstuhl stehen lassen können, wird bitter enttäuscht werden. Doch wer es eher sportlich sieht und vor allem seine Muskeln trainieren will, profitiert.“
Das Gehtraining hält die oft noch recht jungen Unfallpatienten fit und beugt Muskelschwund und Osteoporose vor. Vorrangige Ziele sind das kurze freie Stehen, etwa zum Hantieren am Küchentisch, und das Überwinden von Treppenstufen. Solche komplexen Bewegungen sind vor allem eine Herausforderung an die Regelungstechnik. Aus Ingenieurssicht beschreibt das Dr. Robert Riener von der TU München so: „Der aufrecht stehende Patient entspricht einem umgedrehten, mehrgelenkigen Pendel, das umfallen oder einknicken würde, hielte nicht die Muskulatur an den Gelenken koordiniert dagegen.“ Die Betonung liegt auf „koordiniert“. Denn simple Neuroprothesen, sogenannte Open-loop-Systeme, bei denen dem linken oder rechten Bein auf Knopfdruck ein fest vorgegebener Reiz verabreicht wird, gibt es schon länger auf dem Markt, doch sind sie bei den Patienten nicht gerade beliebt. Das Schreiten mit ihnen bleibe stereotyp und roboterhaft.
In München hat man diese Systeme um Feedback-Schleifen zum Closed-loop-System erweitert. Sensoren in Form aufgeklebter Potentiometer messen den Winkel an Fuß-, Knie- und Hüftgelenk. Ein Regler, der mit den individuellen Kennwerten des Patienten gefüttert wurde, erhöht oder vermindert die Reizstärke der Muskelelektroden so, dass der Patient eine für ihn ideale Soll-Bewegung ausführt. Dabei werden auch Kräfte berücksichtigt, die noch intakte Rückenmarksreflexe beisteuern. Außerdem hilft beim Aufstehen die Arm- und Oberkörpermuskulatur. Auch Ermüdungen werden ausgeglichen.
Die mathematischen Modelle der physiologischen Abläufe simulieren die Münchner am PC. Per Computeranimation führen sie am Bildschirm Experimente durch, „ohne den Patienten behelligen zu müssen“, wie Riener sagt. „Unser Schwerpunkt liegt in der Optimierung der Steuerung“, ergänzt Quintern. „Was wir hier erreichen, werden wir sicher irgendwann auf Implantate anwenden.“
Stehen und Gehen sind jedoch nicht die einzigen Funktionen, bei denen Neuroprothesen Menschen mit Rückenmarkschäden helfen können. „85 Prozent aller Querschnittgelähmten haben urologische Probleme“, sagt Prof. Klaus-Peter Jünemann vom Universitätsklinikum Mannheim. Die Blase tropft unkontrolliert oder krampft zusammen, statt sich zu entleeren, und „weil das peinlich ist, weil man das sehen und riechen kann, fühlt sich so mancher lebendig begraben“.
Zusammen mit Neurologen, Chirurgen und Elektronikern arbeitet Jünemann deshalb an der Verbesserung eines autoadaptiven Blasenstimulators. Das Implantat soll die vom Rückenmark zur Blase ziehenden Nervenfasern aktivieren, die Speicherfunktion der Blase wieder herstellen und eine Spastik des Schließmuskels verhindern. Mit einem externen Steuergerät kann der Patient per Knopfdruck Wasser lassen. Das heißt: Statt Windel, Katheter und künstlicher Urin-Ableitung hat er wieder Kontrolle über diese intime Körperfunktion. Wie Jünemann sagt, steht das Implantat kurz vor der klinischen Erprobung.
Neben Quintern und Jünemann stellten noch weitere Experten kürzlich beim Symposium der Gesellschaft für Physikalische Biologie in Tübingen „ihre“ Neuroprothesen vor. Ungebremst ist der Siegeszug des Cochlea-Implantats. Der gewundene Draht mit seinen Elektroden ersetzt degenerierte Hörzellen in der Ohrschnecke. „Inzwischen tragen schon mehrere tausend Patienten weltweit das Implantat“, resümierte Prof. Henning Scheich aus Magdeburg. „Und 30 Prozent von ihnen können wieder so gut hören, dass wir das wissenschaftlich kaum erklären können. Sie folgen einer Unterhaltung, telefonieren frei, und man merkt ihnen nichts an.“ Wohlgemerkt: Es handelt sich um zuvor absolut taube Menschen.
Bei der Entwicklung einer künstlichen Netzhaut für Blinde dagegen stellt sich der Fortschritt nur langsam ein, wie Prof. Eberhart Zrenner von der Tübinger Augenklinik berichtete. Immerhin ist es einem Team aus Stuttgart, Reutlingen und Regensburg vor kurzem gelungen, einen 2 mm x 2 mm großen lichtempfindlichen Chip mit einer biegsamen Folie vor die Netzhaut eines Schweins zu schieben. „Der operative Teil kann als gelöst gelten“, sagte Zrenner. Nun muss noch geprüft werden, ob die am Sehnerv ausgelösten visuellen Potentiale zu guten Seheindrücken in höheren Regionen der Hirnrinde führen. „Denn bevor wir blinde Menschen operieren, muss die Prothese besser sein als ein Blindenhund.“
Wiederum an Wunderheilung grenzt, was Prof. Günther Deuschl aus Kiel erreicht: Durch eine elektrische Stimulation des Gehirns mit 100 Hz bis 200 Hz verlieren Parkinsonkranke ihre Starre oder das Zittern und können sich nahezu normal bewegen. „Diese Patienten stellen den Stimulator nicht mehr ab“, sagt Deuschl. „Dabei können wir noch nicht erklären, auf welche Weise die Methode funktioniert.“ JUDITH RAUCH
Stehe auf und gehe – recht biblisch der Name des europäischen Konsortiums SUAW (stand up and walk), das Gelähmte aus dem Rollstuhl hilft.

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