Anpassungsfähig und extrem wandelbar
Kunststoffe sind ein vielseitig modifizierbarer Partner für die Medizintechnik. Ihre anpassbaren Eigenschaften ermöglichen maßgeschneiderte Implantate.
Einige Menschen haben buchstäblich ein Herz für Plastik. Diese Patienten verdanken ihr Leben einem Kunstherzen, das die lange Wartezeit auf ein Spenderorgan überbrücken hilft. Ein solches, bereits voll implantierbares Kunstorgan ist nicht größer als eine Pampelmuse. Es besteht neben einer Pumpe aus Titan aus dem hoch belastbaren Kunststoff Polyurethan.
Die zu beiden Seiten der zentralen Pumpeinheit trichterförmig ansetzenden Kunststoffteile simulieren die beiden pulsierenden Herzkammern, die sich, wie ihr biologisches Vorbild, mit dem einströmenden und wieder ausgetriebenen Blut „ausbeulen“. Auf jeder Seite zweigen zwei Plastikventile ab, welche die sich rhythmisch öffnenden und schließenden Herzklappen nachahmen. Das seit 2001 eingesetzte Kunstherz „Abicor“ ist eine Hightech-Synthese aus Leichtmetall und Kunststoff, den wichtigsten Werkstoffen im medizinischen Sektor.
„Kunststoffe haben gegenüber den Metallen den großen Vorteil, dass sich ihre Materialeigenschaften in allen drei Dimensionen optimal an die unterschiedlichen biomedizinischen Erfordernisse anpassen lassen. Das macht sie zu einem idealen Werkstoff für biokompatible Implantate“, sagt Joachim Storsberg, Projektleiter am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung in Golm. Kein Wunder, dass das anpassungsfähige Material inzwischen zur Nummer eins unter den medizinischen Werkstoffen aufgestiegen ist.
Kunststoffe kommen bei rund der Hälfte aller medizinischen Erzeugnisse zum Einsatz das waren rund 12 000 t im vergangenen Jahr, schätzt Eucomed, der europäische Dachverband der Medizinprodukteindustrie. Weltweit liegt der Bedarf bei über 1,8 Mio. t. Das entspricht zwar erst einem Anteil von gut 1 % am Gesamtverbrauch bei Kunststoffen, doch wächst der Bedarf in der Medizintechnik überproportional.
Mit einer immer älter werdenden Bevölkerung steigt die Zahl der Menschen, die auf die Unterstützung von funktionellen Körpergeweben und künstlichen Organen angewiesen ist. Implantate wie Hüft- und Kniegelenke sollen großen Belastungen widerstehen und die Beweglichkeit der Patienten wiederherstellen. Materialien im Spagat: Knochenersatz muss hart und dehnbar zugleich sein „Bei Kunststoffen lassen sich gegensätzliche Eigenschaften wie Härte und Dehnbarkeit gezielt über den Vernetzungsgrad des Werkstoffes einstellen“, erläutert der Fraunhofer-Forscher. Auf ähnliche Weise lässt sich auch die Transparenz beeinflussen, ein Effekt, der bei der Herstellung von Kontaktlinsen genutzt wird.
Große Hoffnungen wecken Polymere – Kettenmoleküle, die sich durch Verknüpfung von kleineren Bausteinen aufbauen. Das Prinzip ähnelt dem Aufbau von Proteinen, den biologischen Strukturbildnern und Funktionsträgern. Es ermöglicht, komplexe dreidimensionale Architekturen zu erschaffen: Hauchdünne und durchsichtige Gewebe ebenso wie künstliche Organe.
„Wir können in gewisser Weise die Natur nachbauen“, sagt Joachim Storsberg, der mit seiner Arbeitsgruppe eine künstliche Hornhaut entwickelt hat. Die enorme Variationsvielfalt der Polymere schafft zugleich die Möglichkeit, den Werkstoff für bestimmte biologische Funktionen maßzuschneidern. So lassen sich auch widersprüchliche Anforderungen in den Griff bekommen. Storsberg: „In unserem Fall heißt das: Einerseits soll das Material am Rand fest in das natürliche Gewebe einwachsen. Andererseits dürfen sich in der Mitte der künstlichen Hornhaut keine Zellen absetzen, da dies das Sehvermögen beeinträchtigt.“
Die Gratwanderung gelang mit einem kommerziell erhältlichen Polymer, das die Forscher zuvor mit einem speziellen Verfahren in Form brachten. Dann kann die dünne Polymerfolie mit Hilfe von Masken beschichtet werden. Ein spezielles Protein, das auf den Rand der künstlichen Hornhaut aufgebracht wird, dient als Verankerungshilfe und Leitplanke für die Zellen. Das Implantat kann fest einwachsen, ohne dass Zellen den vorgegebenen Rahmen verlassen können. Der vordere, optische Bereich ist mit einem wasserliebenden Polymer beschichtet. So ist die künstliche Hornhaut immer mit Tränenflüssigkeit benetzt.
Im kommenden Jahr soll es damit in die klinische Erprobung gehen. In einigen Jahren, so hoffen die Forscher, könnte das Implantat das Augenlicht von vielen tausend Patienten retten.
Gefäßprothesen und Herzklappen aus Kunststoff könnten bald das Risiko für die Bildung von Blutgerinnseln senken. Die Blutverträglichkeit gilt als einer der entscheidenden Faktoren für die Biokompatibilität. Die meisten Materialien, die mit Blut in Kontakt kommen, fördern seine Gerinnung. „Kunststoffe bieten aufgrund ihrer molekularen Struktur die Möglichkeit, an die Oberfläche natürlich vorkommender, gerinnungshemmender Proteine anzukoppeln, die das Thromboserisiko senken“, erläutert Carsten Werner, Leiter Biokompatible Materialien am Institut für Polymerforschung in Dresden.
Die Realisierung einer solchen Vermittlungsstelle ist aber noch eine technologische Herausforderung. „Dazu müssen erst noch spezielle Ankoppelungsmediatoren geschaffen werden“, weiß Marco Müller, Projektleiter am Institut für Werkstoffwissenschaften und -technologien der TU Berlin, wo biokompatible Gefäßprothesen entwickelt werden.
Der Bedarf dafür ist groß. Wenn sich ein Blutgefäß durch Ablagerungen verengt und zu verschließen droht, weiten Ärzte die enge Stelle auf und setzen ein kleines, flexibles Röhrchen ein, das das Gefäß offen hält. „Bei bis zu 30 % der Patienten verstopfen die Röhrchen allerdings erneut, weil sich Blutbestandteile an der Innenseite anlagern“, so Müller. Das sollen Polymerröhrchen aus einer Polycarbonatverbindung mit Formgedächtnis verhindern, die die TU-Forscher zusammen mit Medizinern vom Deutschen Herzzentrum der Berliner Charité entwickelt haben.
Das von den Berliner Forschern entwickelte Verfahren ermöglicht es, die Innenwand der Röhrchen mit nanometer- bis mikrometergroßen Strukturen zu versehen. Wie beim biologischen Vorbild Lotusblatt sollen winzige Noppen das Anhaften von Blutgerinnseln verhindern. Geplant ist, in den Kunststoff auch Medikamente zu integrieren. Dafür müssen noch geeignete Verfahren entwickelt werden.
SILVIA VON DER WEIDEN
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