Unsichtbare Lotsen steigen auf die Führerstände der Züge
Sie steuern, überwachen und sichern künftig über alle Grenzen hinweg Europas Eisenbahnen. Mit GSM-Rail als Datentransfer-Standard fiel diesen Sommer der Startschuß.
Für die Kunden der Bahn hat Peter Münchschwander ein langerwartetes Versprechen parat: „Wir werden künftig die Züge auf unserem Netz erheblich besser managen, unsere Leistungen verbessern und ein attraktiveres Angebot plazieren können.“ Anfang Juli setzte der Vorstandsvorsitzende der Deutsche Bahn-Tochter DB Netz AG seine Unterschrift unter einen 3 Mrd. DM schweren Vertrag mit Telekommunikationsspezialist Mannesmann Arcor. Er sieht vor, bis 2002 rund 27 000 km DB-Gleise mit dem digitalen Mobilfunk GSM-R (Rail) auszurüsten. Rund 2800 Sendemasten bilden dann erste Maschen eines Netzes, das für lückenlose Kommunikation entlang der Strecken sorgt.
Der auf dem Mobilfunk-Standard GSM basierende Bahnfunk schlägt gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Er führt die bislang auf jeweils eigenen Wellen funkenden analogen Bahnsysteme Betriebs- und Instandhaltungsfunk, Zug-, Rangierfunk, Tunnel- und Kraftfahrzeugfunk unter ein einheitliches, volldigitalisiertes Dach. Unter GSM-R schlüpfen neben der Automatischen Zugsteuerung (ATC) die Mobilfunknetze D1, D2 und E-Plus als Telefonanschluß im Zug, sowie elektronische Fahrgast-, Fahrplan- und Verkehrsauskunftssysteme.
Was für die unter Wettbewerbsdruck stehende Bahn jedoch am meisten zählt: Die per GSM-Rail geführte Kommunikation zwischen Stellwerken, Leitstellen, Triebzügen und Lokomotiven drückt Infrastrukturaufwand, Wartungs- und Instandhaltungskosten erheblich. Denn ortsfeste, am Gleis stehende mechanische oder elektrische Signale, Streckenblöcke, Gleisfreimeldeanlagen und die induktive Zugsicherung ihrer oft kilometerlangen Kabelstränge haben ausgedient. Selbst die auf den Schnellfahrstraßen verlegten LZB-Antennenkabel zur Übertragung von Streckeninformationen auf die Führerstände drängt GSM-R über lang oder kurz aufs Altenteil.
Deren Aufgaben der Zugsicherung und Zugsteuerung teilt sich in künftig leistungsfähige, über Mobilfunk kommunizierende Rechnertechnik an Bord der Triebfahrzeuge und in den Betriebsleitzentralen. Dabei übernimmt ein zentraler Fahrwegrechner die Zugfolgesicherung. Er weist jedem Zug seinen virtuellen Gleisabschnitt zu, während der Bordrechner die Fahrwegsicherung abwickelt, per Funk Weichen schaltet oder Bahnschranken schließt, erläutert Joachim Winter, Leiter Systemtechnik bei Adtranz (Signal) in Ulm und Braunschweig.
Der Bahntechnikmulti erarbeitete das technische Konzept für die bei der Bahn FFB (FunkFahrBetrieb) getaufte Telematik-Anwendung. FFB soll nach den Worten von Florian Kollmannsberger, Leiter Telematik im Münchener DB-Forschungszentrum, nicht nur auf Neubaustrecken Köln – Rhein/ Main zum Einsatz kommen. FFB eigne sich mehr noch für bislang schwach genutzte, unrentable Nebenbahnen.
Daß ein FFB-Zug seinen Gleisbereich verläßt, verdeutlicht Adtranz-Mann Winter, verhindert die als Seele des Systems fungierende Fahrzeugselbstortung. Sie geschieht mit Hilfe von elektronischen Kilometersteinen im Gleis, den Balisen oder Baken. Beim Überfahren eines Zuges füttern sie dessen Bordrechner mit ihrer Positionsangabe. Eine an der Fahrzeugachse installierte Sensorik, das Odometer, sichert die Ortung ab. Das Gerät mißt zurückgelegte Wegstrecken und Geschwindigkeit des Zuges und teilt die Werte dem Bordrechner mit. Der funkt sie an den zentralen Fahrwegrechner.
FFB baut aber auch auf Hilfe von ganz oben. Satelliten der ursprünglich zu militärischen Zwecken entwickelten Kommunikationssysteme GPS (USA) und Glonass (Ex-UdSSR) sowie ab 2008 auch die künstlichen Monde des „Galileo“-Navigationssystems der EU (siehe Beitrag unten) dienen dabei als Dreh- und Angelpunkte im erdnahen Raum, um die Position eines Schienenfahrzeuges zu ermitteln. Besonders geeichte terrestrische Referenzstationen vergleichen die empfangenen Satellitenpositionen ständig mit der eigenen Position und gleichen Ungenauigkeiten aus. In Abschattungsgebieten wie Tunnel oder tiefen Einschnitten vertraut das System auf das Odometer. Winter gibt sich optimistisch: „Wir haben in Versuchen Erkennungsgenauigkeiten von 1,5 m bis 2 m nachgewiesen.“ Das Konzept der himmlischen Lotsen hält der promovierte Ingenieur für die Zukunft schlechthin. Es erfülle alle Forderung der europäischen Bahnen nach Interoperabilität. Winter: „Per Satellit können die Züge auf ‚elektronische Sicht“ fahren, indem die Lokführer die Position des jeweils anderen Zuges auf ihrem Führerstand-Display sehen – wie in der Luftfahrt.“
Jürgen Siegmann von der Berliner TU, pflichtet dem bei: „Die Zukunft wird vermutlich aus einer Kombination von Satellit, Funk und elektronischem Kilometerstein bestehen.“ Ziel: die Kommunikation von Zug zu Zug. Der Professor und Bahn-Experte sieht darin mit Telematik intelligent realisiert, was der Markt seit langem fordert: die Reduzierung der Fahrwegkosten. Das bedeute erstens „Kabel und alles, was Signaltechnik heißt, raus aus dem Gleis“ und zweitens „Stückkosten runter“.
DB Cargo, der Güterverkehr der Deutschen Bahn mit Sitz in Mainz, erprobt deshalb seit geraumer Zeit verschiedene satellitenbasierte Systeme zur europaweiten Ortung von Güterwagen und automatischen Identifizierung der Ladung. Weil bereits 40 % aller Cargo-Transporte im internationalen Verkehr rollen, wollen die Logistik-Mainzelmänner in Sachen Sendungsverfolgung, transportbegleitende und der Fracht vorauseilende Information nicht den Anschluß verlieren. Per Mausklick oder Internet-Zugang erfahren Leitstelle oder Kunde jederzeit, wo sich die Fracht befindet.
Eher zaghaft wagen sich DB Regio, DB Reise&Touristik sowie DB Station&Service in die Weiten des Alls hinaus. Die Pilotprojekte RIS und RISRegio arbeiten einstweilen nur als satellitengestützte, interaktive Informationssysteme, die dem Fahrgast Ankunft, Anschlüsse oder Verspätungen und deren Auswirkungen auf Anschlußverbindungen auf einem Display im Zug anzeigen.
Mit GSM-R, Satelliten-Ortung und elektronischem Kilometerstein hat die Bahn die Weichen in Richtung Europa gestellt. Grenzhalte und Lokwechsel sollen in Zukunft ebenso aufs Abstellgleis kommen wie das gute alte Signal.
JÜRGEN HEINRICH/kra
Abschied aus der Vergangenheit: Das alte Zug-Signal hat ausgedient. Bei der Bahn übernehmen Mobilfunk und Satelliten-Ortung das Kommando. Pünktlichere Züge und bessere Fahrgastinformationen sind versprochen.
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