Telekommunikation 13.10.2000, 17:26 Uhr

Technik für die Nomaden der Info-Gesellschaft

Und plötzlich ist das Telefon weg. Das Bremer Start-up-Unter- nehmen Mioco will nicht nur traditionelle TK-Hardware durch pure Software ersetzen, sondern auch neue Kommunikationswege eröffnen.

Gibt es hier denn keine Telefonsteckdose?“ Als der Möbelpacker vor wenigen Tagen den Schreibtisch in seinem neuen Büro hin und her rückte, konnte er es kaum glauben, erinnert sich Roland Gieske, „kein Telefonanschluss weit und breit.“ Aber für Gieske ist das nicht das Ende der Kommunikation. Im Gegenteil: „Das ist erst der Anfang.“
Von seinem gläsernen Büro im Bremer Büropark Oberneuland überblickt Gieske ein Großraumbüro mit gut einem Dutzend Mitarbeitern, keineswegs nur Youngster, auch ein paar graue Haare sind darunter. Zwischen den Menschen ein paar Pflanzen, das einzige was den spartanischen Eindruck mildert, ist ein riesiger Kicker. „Beim Kampf um Tore wurde schon manche gute Idee geboren“, lächelt Gieske.
Auf Gieskes Schreibtisch kein Telefon, nur ein PC, neben dem ein Hörer hängt. Doch plötzlich klingelt es, etwas gedämpfter als ein normales Telefon, auf dem Bildschirm, auf dem eben noch ein Word-Dokument zu sehen war, taucht das Bild eines Handys auf, samt der Nummer des Anrufers. Gieske drückt die „Enter“-Taste, brummt „Jetzt nicht“ in den Hörer, und das Bild verschwindet.
Das ist Gieskes Zukunft. Zusammen mit seinem Partner Thomas Steinig hat er das Telefon in den PC integriert. Nun wollen die beiden mit ihrem Unternehmen „Mioco – mind of communication“ den Markt erobern – pure Software tritt gegen herkömmliche TK-Hardware an. „Ein bisschen erinnert das schon an den Kampf David gegen Goliath“, räumt Gieske ein.
Aber Gieske hat seine Truppen. Wenn er durch das Großraumbüro läuft, leuchten die Augen seiner Mitarbeiter auf. Der Mioco-Chef hat was von einem Guru, eine ansteckende Aura. Hier zweifelt niemand am Erfolg seiner Ideen.
Internet-Telephonie, Soft-PBX, Computer Telephony Integration – Ansätze für neue Wege in der Telekommunikation (TK) gibt es viele, denn in Deutschland boomt das Geschäft mit dem Telefon und seinen Verwandten. In den nächsten 24 Monaten werden nach Expertenschätzungen zu den bereits 4 Mio. vorhandenen ISDN-Anschlüssen weitere 7,2 Mio. kommen.
Angestachelt wird die Nachfrage durch den anhaltenden Run aufs Internet. Doch die künftigen Surfer wollen nicht nur nach Daten und Informationen suchen, wenigstens 16 % von ihnen werden nach einer Allensbach-Studie übers Internet telefonieren und brauchen die entsprechende Software.
Auch in Unternehmen spielt das Internet als Kommunikationsträger eine wachsende Rolle, für Mioco der ideale Einstieg: „Allein in diesem Jahr liegt das Marktpotenzial für die Neubeschaffung und den Ersatz von Telekommunikationsanlagen bei 19,6 Mrd. DM“, schätzt Gieske.
Doch dem 48-Jährigen geht es nicht allein darum, in Firmen Hardware durch Software zu ersetzen. „Wir befinden uns im Wandel von der Dienstleistungs- zur Informationsgesellschaft, das erfordert ganz andere technische Voraussetzungen.“ Sprache, Daten und Bilder wie bisher in getrennten, nicht kompatiblen Netzen zu transportieren, ist für ihn „Steinzeit“.
Der, der mit Gieske für die Zukunft zuständig ist, kommt gerade zur Tür hinein – Thomas Steinig. Steinig sitzt mit seiner Entwicklungstruppe in einem zweiten Großraumbüro im Obergeschoss. Er ist der ideale Gegenpart zu Gieske – nicht nur einen Kopf kleiner, auch zurückhaltender, unauffälliger. Bei ihm muss man genau hinhören, wenn er mit leiser Stimme erzählt. Im Team Gieske-Steinig gibt er den Part des stillen, aber genialen Entwicklers.
Steinig hat einen Laptop mitgebracht, umreißt mit knappen Worten die technischen Details der Mioco-Entwicklung: „Die Software basiert auf Windows. Einzige Systemvoraussetzungen sind ein ISDN-Anschluss am Server sowie duplexfähige Soundkarten in jedem angeschlossenen Desktop-Rechner.“ Dann lässt der 43-Jährige seine Blicke durch das Großraumbüro schweifen, kein Telefon weit und breit, seine Augen leuchten: „So, wie hier, wird es bald in vielen Büros aussehen. Hier hat die Zukunft bereits begonnen.“
Das Neue ist dabei gar nicht einmal, dass jeder PC gleichzeitig auch Telefon ist. Neu sind die Kommunikationsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben. Erkennt der Rechner die Telefonnummer des Anrufers, holt er zugleich die passenden elektronischen „Akten“ auf den Bildschirm. Parallel zum Telefonieren lassen sich auf beiden Enden der Leitung auch Daten bearbeiten, voice- und E-Mails verschicken. „So wird das PC-Netzwerk wirklich zum zentralen Nervensystem des Unternehmens“, hofft Steinig.
Die neue Flexibilität soll Mobilität schaffen. Selbst von außerhalb kann sich ein Mitarbeiter mit dem Notebook-Telefon übers Internet ins firmeninterne Netz einloggen und telefonieren, als säße er im Büro. Gieske hat es selbst probiert. Im Internet-Café auf Ibiza spielte er kurzerhand die Software auf den Rechner: „Und schon war ich wieder ein Teil von Mioco.“
Für den Außenstehenden ist das Büro von morgen am Schreibtisch zu erkennen. Dort steht kein Telefon mehr, dafür hängt der Hörer am Flachbildschirm. Die virtuelle TK-Anlage hingegen ist nicht sichtbar, sie liegt als Software auf dem Server des Local Area Networks.
Für“s Vermarkten der Mioco-Produkte ist das durchaus ein Problem. „Das Unsichtbare sichtbar zu machen, ist eine unserer größten Herausforderungen“, so Gieskes Erfahrung. Immer wieder müssen potenzielle Kunden überzeugt werden, von alten Gewohnheiten zu lassen: „Das Telefon kennt jeder, das kann jeder anfassen. Software ist dagegen nur schwer zu begreifen.“
Vor allem musste Gieske aber Geldgeber dazu bringen, die Chancen des virtuellen Produktes zu erkennen. Aber das Team Gieske-Steinig ist nicht irgendwer. Als noch niemand von Venture-Capital und business angels sprach, brachten Gieske und Steinig mit MIS das erste elektronische Textverarbeitungsprogramm auf den Markt. Das war vor 20 Jahren, als die PC noch „Mikrocomputer“ hießen.
Kapital aufzubringen war für Gieske deshalb nicht schwer. Die jüngste Finanzierungsrunde mit den drei Kapitalgebern – earlybird, 3i und Krone MT – ist abgeschlossen. Gestützt auf einen zweistelligen Millionenbetrag an Venture-Capital beginnt jetzt die heiße Phase des Marktauftrittes: „Im Sommer 2001 schreiben wir schwarze Zahlen.“
Nur eine Hype junger Start-ups macht Gieske nicht um jeden Preis mit: den Börsengang. Auch bevor der Neue Markt in die Knie ging, hatte Gieske den Schritt aufs Parkett nur als eine von vielen Möglichkeiten eingestuft: „Erst einmal muss das Unternehmen ein super sauberes Kerngeschäft entwickeln.“
Und Gieske weiß auch sonst, was für den Erfolg unerlässlich ist: der Glaube an die Sache. So versucht er, dem Betrieb und seinen Mitarbeiten – intern nur die Miocos genannt – die Aura des Besonderen, fast des Kultigen zu erhalten. „Mioco steht für mind of communication“, sagt Gieske: „Wir sind zwar in erster Linie ein Software-Haus, aber wir bieten nicht nur ein Produkt, sondern eine ganze Philosophie.“
Die und das Kickern scheinen die Miocos auf Trab zu halten. Kaum ist Steinig wieder in seine Entwicklungsetage verschwunden, sitzt Gieske schon wieder am PC und demonstriert die jüngste Mioco-Entwicklung – den „Call-me-button“.
Der „Call-me-button“ soll bislang stumme Internet-Seiten zum Leben erwecken und mehr Service im E-commerce möglich machen. „Wenn der Kunde diesen Knopf drückt“, sagt Gieske und klickt auf den button, „wird ein Stück Telefonsoftware auf seinen Rechner geladen und er kann via Internet mit dem Call-Center sprechen.“
Dabei muss er auch nicht zu Hause am Rechner sitzen: In Kürze will Mioco eine Software vorstellen, die zusammen mit einer phonecard das Notebook zum vollständigen Internet-Telefon macht – ohne Kabel und Handy. „Das ist die Technik für die Informationsnomaden von morgen“. Und dann werden sich auch die Möbelpacker umgewöhnen müssen. WOLFGANG HEUMER

Ein Beitrag von:

  • Wolfgang Heumer

    Der Autor hat mehr als zehn Jahre als Redakteur und Redaktionsleiter für verschiedene Tageszeitungen gearbeitet. Seit 1998 ist er freiberuflich mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Technik und Wissenschaft für Magazine, Agenturen, Tageszeitungen und fachlich geprägte Medien tätig.

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