Alte Websites erzählen Internet-Geschichte(n)
Seit 1996 sammelt Brewster Kahle Internetseiten. 1200 Festplatten mit 100 Terabyte Daten ist der momentane Stand des Archivs. Auf den rund 10 Mrd. gespeicherten Webseiten können Surfer eine Reise in die digitale Vergangenheit des Internets antreten.
Bundeskanzler Kohl beendet seinen Weihnachtsurlaub – Boris Becker besiegt Stefan Edberg – Intel kündigt einen Pentium mit 150 MHz an. Das meldeten am 2. Januar 1996 deutsche Zeitungen auf ihren Webseiten. Viele Netzausgaben gab es damals noch nicht und nur wenige surften auf der Neubaustrecke Datenautobahn. Und so gingen die Schlagzeilen größtenteils ungelesen durch den digitalen Äther, wurden gelöscht und vergessen. Doch an einem Platz sind die Schlagzeilen von 1996 noch lebendig: in einem Keller in San Francisco. Dort nahmen vor fünf Jahren zwei kleine PCs ihren Dienst auf. Ihr Auftrag: das Internet archivieren.
Heute sind aus zwei Festplatten 1200 geworden und das Kellerprojekt hat sich zu einer gigantische Daten-Bibliothek ausgewachsen: 10 Mrd. Webseiten hat das Internet-Archiv mittlerweile gesammelt. Über 100 Terabyte Daten liegen auf dem Linux-Cluster im Keller des ehemaligen Militärstützpunktes Presidio – fünf Mal so viel wie in der Bibliothek des amerikanischen Kongresses. Kürzlich hat der Gründer des Archivs, der Internet-Millionär Brewster Kahle, die Sammlung der Öffentlichkeit vorgestellt: Surfer können ab sofort mit einer so genannten „Wayback“-Machine eine Reise in die digitale Vergangenheit antreten – so sieht man etwa die noch ungelenken HTML-Gehversuche heutiger Giganten wie Amazon, Yahoo oder AOL.
Doch trotz aller Nostalgie und Entdeckerfreude – es gibt auch einen Haken: Der wohlmeinende Internet-Archivar Kahle ist ein Gesetzesbrecher. Denn seine „Wayback-Machine“ verstößt gegen international anerkannte Copyright-Gesetze. „Internetseiten Dritter zum Abruf zur Verfügung zu stellen ist unzulässig“, erklärt Tobias Strömer, Spezialist für Internet-Recht in Düsseldorf. Denn Webseiten sind wie Gedrucktes urheberrechtlich geschützt. Und das bedeutet: Die Verbreitung ist strafbar. Rechtsanwalt Strömer: „Man könnte ein entsprechendes Urteil in den USA vollstrecken lassen – das ist allerdings mit sehr hohem Aufwand verbunden.“ Wollen die Internet-Archive gesetzestreu sein, müssten sie von jedem Webseitenbetreiber eine Einverständniserklärung einfordern.
Auch die Deutsche Bibliothek in Frankfurt hat dieses Problem erkannt – und sich deshalb gegen das so genannte „harvesten“, das massenweise Ernten von Webseiten, entschieden. Seit kurzem nimmt die deutsche Nationalbibliothek auch Webpublikationen in ihren Bestand auf, und zwar Seite für Seite. Verleger und Privatleute liefern ihre Werke elektronisch, Bibliothekare erfassen und verschlagworten alles per Hand. Die Gründe für diese Verfahren sind rein pragmatisch. „Natürlich ist das zeitaufwändig, aber nur so liefern Suchmaschinen noch sinnvolle Ergebnisse“, erklärt Ute Schwens, Leiterin der Deutschen Bibliothek.
Aber selbst die offiziellen Datensammler agieren in einer rechtlichen Grauzone. Genau genommen dürfte die Nationalbibliothek nämlich die Internetausgaben von Zeitungen gar nicht über die eigene Website zugängig machen. Deshalb geht man in Frankfurt lieber auf Nummer sicher. Schwens: „Material, auf das Copyright besteht, kann nur im Lesesaal eingesehen werden.“
Beim US-Archiv indes appelliert man an den guten Willen der Urheber. So heißt es in den Nutzungsbedingungen, man sammele nur Seiten, die ohne Passwort zugänglich sind jeder Website-Betreiber könne seine Seite auf Wunsch sofort aus dem Archiv entfernen lassen. Außerdem verweist man auf seinen Non-Profit-Status und hofft, so Klagen abwenden zu können. Doch an der Gesetzeslage ändert das nichts, Rechtsexperte Strömer: „Es ist egal, ob damit Geld verdient wird oder nicht.“
CONSTANTIN GILLIES
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