„Wenn wir eins haben, dann Energie“
VDI nachrichten, Reykjavik, 21. 1. 05 -Island nutzt seine gewaltigen Wasserkraft- und Erdwärme- Potenziale als Lockmittel, um vor allem internationale Aluminium-Unternehmen anzusiedeln. Das Land will langfristig seinen Wohlstand sichern und nicht länger vom Fischfang abhängig sein. Deshalb setzt es auf neue Kraftwerke. Selbst Umwelt- schützer halten sich mittlerweile zurück.
Unablässig bläst der starke Westwind den feinen Lavastaub durch die Luft. Kristján Kristinsson hält beide Hände schützend vor den Kopf. Viel sehen kann der Projektingenieur von Islands größtem Stromversorger Landsvirkjun nicht. Tief unter ihm erstreckt sich der Hafrahvammagljúfur Canyon. „Einen schlechteren Tag hätten wir uns nicht aussuchen können.“
Wie Ameisen wirken die gelbfarbenen Schwerlastkipper tief unten im Canyon. Dazwischen Arbeiter in ihren knallroten Sicherheitswesten. Am Rand des Canyons graben sich riesige Maschinen in den Fels, der heftige Wind trägt das Krachen der Gesteinsmühlen herüber.
Eine Viertelstunde später hat Kristinsson seinen Jeep auf den Grund des Canyons manövriert. Vor wenigen Monaten strömte hier noch der Jökulsá entlang, ein mächtiger Gletscherfluss, so alt wie Island selbst. Findige Wasserbau-Ingenieure haben den Jökulsá jetzt in einem Tunnelsystem für einige Kilometer umgeleitet.
Riesige Lkw mit übermannsgroßen Reifen transportieren die zerkleinerten Gesteinsbrocken an den Rand einer Baustelle, die sich quer über das Tal zieht. Hier entsteht der Kárahnjúkjar-Damm, Teil eines gigantischen Wasserkraft-Projektes. Mit dem aus dem Fels gebrochenen Gestein wird der Damm in die Höhe gezogen.
Kárahnjúkjar, im Osten der Insel, eine Flugstunde von Reykjavik entfernt, hat für den kleinen Inselstaat die Ausmaße des Turmbaus zu Babel. Auf 700 MW Leistung ist das neue Wasserkraftwerk ausgelegt – gut die Hälfte der bislang landesweit installierten Kapazität. Drei Dämme sind notwendig, um das Wasser aufzustauen.
Die höchste Staumauer direkt am Kárahnjúkjar, dem Berg des Windes, wird eine Länge von 800 m und eine Höhe von 190 m haben. Das ist mehr als doppelt so hoch wie Islands bekanntestes Bauwerk, die Hallgríms-Kirche in Reykjavik.
Weltweit arbeiten gut 3000 Menschen für das Kárahnjúkjar-Projekt, an die 1000 auf der Hauptbaustelle im Hafrahvammagljúfur Canyon. Bis zur Inbetriebnahme im Frühjahr 2006 müssen sie nicht nur die Dämme hochgezogen, sondern auch ein ausgeklügeltes Tunnelsystem gebohrt haben.
Noch ist nur das Fundament der Staumauer zu erkennen. Doch in wenigen Jahren soll der Stausee eine Fläche von 57 km2 abdecken. Unterirdisch wird das Wasser über gut 35 km in die eigentliche Energiezentrale fließen, wo vier Turbinen jährlich an die 4,6 Mrd. kWh Strom erzeugen.
Und das alles nur für einen einzigen Kunden: Abnehmer ist die neue Aluminium-Hütte des Alcoa-Konzerns im gut 35 km entfernten Reyðarfjörður.
Über 320 000 t Primäraluminium wollen die Amerikaner dort jährlich produzieren, womit sich die Alu-Produktion auf dem Inselland auf einen Schlag mehr als verdoppeln wird.
Dahinter steckt politische Strategie. „Mit unseren Wasserkraft- und Geothermie-Ressourcen wollen wir die heimische Industrieproduktion diversifizieren und damit letztlich den Lebensstandard unserer Bevölkerung verbessern“, wirbt Industrie- und Handelsministerin Valgerdur Sverrisdóttir um Investoren aus der Aluminium-Branche.
Das Lockmittel: niedrige Energiepreise. Nach offiziellen Zahlen liegen die Industriestrompreise auf Island durchschnittlich bei 1,92 ct/kWh. Die beiden auf der Insel produzierenden Aluminium-Hütten haben Sondertarife mit weniger als 1,5 ct/kWh, so ist zu hören.
Für die Alu-Schmelzer ist das einer der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg: Die Energiekosten machen im Schnitt ein Drittel ihrer Produktionskosten aus – für die Produktion einer Tonne Aluminium sind gut 13 500 kWh Strom notwendig.
So hat das Alcoa-Management einige überteuerte Standorte in den USA geschlossen und sich für die günstigen Standortbedingungen in Island entschieden.
Für Kristján Kristinsson macht das Sinn. „Wir müssen die Möglichkeit, die unser Land uns bietet, nutzen“, sagt er, während neben der Baustelle ein Bohrgerät für das unterirdische Kanalsystem in Stellung gebracht wird.
Nach wie vor hängt Islands Exportwirtschaft stark von der Fischerei ab. Gut 60 % des Exports entfallen auf diesen Sektor. Diversifizierung heißt deshalb die Maxime der Wirtschaftspolitik. Und wenn das Alcoa-Werk erst einmal in Betrieb ist, werden die Erlöse aus der Aluminiumbranche auf einen Anteil von 21 % am Export der Insel steigen. Derzeit liegt die Quote bei gut 15 %.
Der Kárahnjúkjar-Damm ist so für Kristinsson auch „ein Beitrag zur nationalen Wohlstandssicherung“.
Nach der Bauentscheidung im Jahr 2002 haben auch die Umweltschützer ihre zuvor teilweise massiven Proteste gegen den Kárahnjúkjar-Damm weitgehend eingestellt – und das, obwohl der Stausee eines der größten und letzten Wildnisgebiete Europas zerstört.
Gegen die verstärkte Nutzung von Islands zweiter grünen Energiequelle, der Erdwärme, gab es jedoch nie Widerstände.
So sind in unmittelbarer Nähe von Reykjavik gleich zwei Geothermie-Kraftwerke geplant. Auch sie sollen Strom für die schon bestehenden Alu-Hütten liefern, die ihre Produktion deutlich ausbauen wollen.
„Hier soll eines der Bohrlöcher für unser neues Kraftwerk entstehen“, erklärt Gunnar Halldór Gunnarsson von den Stadtwerken Reykjavik bei der Tour durch die Hellisheiði-Region, gut 20 Autominuten östlich von Reykjavik. Die Scheibenwischer seines Jeeps haben Mühe, mit dem peitschenden Regen fertig zu werden. Deutlich heben sich die gleißend hellen Baustellenlampen vor dem dunklen Himmel ab.
In gut 3 km Tiefe hofft das Bohrteam, auf heißes Wasser mit mehr als 100° C zu stoßen. Im Frühjahr 2006 soll der erste Bauabschnitt mit zwei Turbinen von je 40 MW Leistung sowie einer Wärmeauskopplung bis zu 266 MW abgeschlossen sein. Bis Mitte der nächsten Dekade wird das Kraftwerk auf eine Kapazität von 120 MW elektrische und 400 MW thermische Leistung ausgebaut.
Ein zweites Geothermiekraftwerk mit ähnlichen Kapazitäten soll im Südwesten auf der Halbinsel Reykjanes entstehen.
Eine Konkurrenz zum Kárahnjúkjar-Damm kann Kristján Kristinsson darin nicht erkennen: „Wenn wir in Island eines im Überfluss haben, dann Energie. Das ist unser Schatz, den müssen wir heben.“
Regelmäßig pendelt der Ingenieur mit dem Flugzeug zwischen dem Damm im Osten der Insel und der Hauptstadt Reykjavik. „Beim Kárahnjúkjar wollte ich von Beginn an dabei sein.“ Um bei diesem Jahrhundertprojekt dabei zu sein, hat er sogar seinen alten Job gekündigt. „Ein größeres Wasserkraftwerk wird bei uns auf Island nie mehr gebaut.“RALF KÖPKE
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