Nuklearindustrie am Scheideweg
Der Nuklearindustrie bietet sich ein gemischtes Bild. Düsteren Aussichten in einigen Ländern stehen Wachstumschancen in anderen Regionen entgegen. Auf ihrem Weltkongreß zeigte die Branche neue Generationen von Kernreaktoren, die bisherige Anlagen ersetzen sollen.
Die Nuklearindustrie steht an einem Scheideweg“, diagnostizierte Pablo Benavides, EU-Generaldirektor für Energie, auf der Eröffnungsveranstaltung des Weltnuklearkongresses ENC 98 in Nizza. Was Benavides auf Europa münzte, gilt anscheinend für die Branche in der gesamten Welt. Neben düsteren Aussichten in einigen europäischen Ländern, namentlich in Deutschland und Schweden, steht Wachstum in Schwellenländern wie in der Türkei oder in Südkorea und Anzeichen einer Renaissance in den Vereinigten Staaten. Die letzte Weltkonferenz dieses Jahrhunderts bot der Industrie die Gelegenheit zur Positionsbestimmung.
Insbesondere die Lage in der Bundesrepublik nach dem Regierungswechsel beschäftigte den Kongreß. Man wolle offen in die Gespräche mit der Bundesregierung gehen, hieß es von Seiten der deutschen Kernkraftwerks-Betreiber. Dennoch schlug Otto Majewski, Vorstandsvorsitzender der Bayernwerk AG, die ersten Pflöcke für die Verhandlungen ein. Jeder Ausstieg, bevor das Lebenszeitende der insgesamt 19 Reaktoren erreicht sei, müsse zu Entschädigungen führen. „Hier steht ein volkswirtschaftlicher Schaden von bis zu 100 Mrd. DM auf dem Spiel“, betonte er. Entwarnung für die Branche kam dagegen aus der Schweiz. Pressemeldungen hatten zunächst den Eindruck erweckt, die Regierung plane den Ausstieg aus der Kernenergie. Später wurde dann vom zuständigen Energiedepartement klargestellt, lediglich der Zeitpunkt für die endgültige Schließung der bestehenden fünf Reaktorblöcke solle festgelegt werden. Eine grundsätzliche Weichenstellung in der Kernenergie steht in der Eidgenossenschaft nicht an.
Einen Silberstreif am Horizont machen die Betreiber und Hersteller von Kernkraftwerken in den USA aus. Ihre Hoffnung gründen sie auf den weltweiten Klimaschutz, wie er auf der UN-Konferenz in Kyoto vereinbart wurde. Dort verpflichteten sich die Vereinigten Staaten, ihren Kohlendioxid-Ausstoß bis zum Jahr 2012 um 7 % unter das Niveau von 1990 zu drücken. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht räumte das Energieministerium ein, dieses Ziel sei nur zu erreichen, wenn die bestehenden Kernkraftwerke auch weiterhin am Netz bleiben. Ihr Anteil an der Energieerzeugung dürfe nicht weiter sinken, sondern müsse bei rund 7,2 % stabilisiert werden. Für die Industrie ist das ein Indiz, daß sich die „indifferente“ Haltung der Regierung gegenüber der Kernkraft ändert. Schon haben zwei Energieversorger für fünf Reaktorblöcke die Verlängerung der Betriebsgenehmigung um 20 Jahre beantragt. „Weitere Unternehmen bereiten ähnliche Schritte vor“, so der Chef des Nuclear Energy Institutes (NEI), Joe Colvin.
Selbst neue Anlagen scheinen möglich. 403 GW Energieerzeugungskapazität muß nach Einschätzung des US-Energieministeriums bis zum Jahr 2020 in den USA installiert werden, um Altanlagen zu ersetzen und den um jährlich 1,5 % steigenden Energiebedarf zu decken. „Ein Teil davon wird auf jeden Fall durch Kernreaktoren bereitgestellt werden“, unterstreicht NEI-Chef Colvin. Den Wettbewerb mit Gaskraftwerken werden allerdings nur mittelgroße Reaktoren bestehen können, bei denen sich Bauzeit und Investitionskosten im Rahmen halten. Mit solchen Anlagen rechnen sich die Hersteller auch gute Chancen auf den Zukunftsmärkten vor allem in Asien aus.
Standardisierte Bauteile senken Bau- und Unterhaltungskosten
Der erste Typ dieser neuen Generation, der AP 600 von Westinghouse, hat soeben die Prüfung durch die US-Atomaufsichtsbehörde bestanden. Der Druckwasserreaktor mit 600 MW elektrischer Leistung ist mit passiven Sicherheitssystemen ausgestattet, die aufgrund von Naturgesetzen funktionieren. So kann der stählerne Sicherheitsbehälter des Reaktors bei Bedarf mit Wasser aus hochliegenden Tanks gekühlt werden. An der Innenseite des Stahlbehälters kondensiert im Notfall das aus dem Reaktor austretende Kühlwasser. Eine weitgehende Standardisierung der Bauteile führt zu verringerten Bau- und Unterhaltungskosten. Der Hersteller rechnet mit einer Bauzeit von nur drei Jahren.
Noch ausgefeilter sind die passiven Systeme des Siedewasserreaktors SWR 1000 von Siemens/KWU. Mit ihrer Hilfe soll ein Reaktorunfall auch dann beherrschbar sein, wenn alle aktiven Sicherheitseinrichtungen ausgefallen sind. Notkondensatoren sorgen dann für den Wärmetransport aus dem Reaktordruckbehälter. Ebenfalls über Kondensation wird die Hitze aus dem Sicherheitsbehälter abgeführt. Sinkt der Druck im Reaktorkern, öffnen sich automatisch Ventile, und neues Kühlwasser wird aus einem Reservoir zugeführt. Siemens rechnet für das Jahr 2000 mit der Marktreife des Systems. Die Zertifizierung des Konzeptes nach dem derzeitigen Atomgesetz wurde im Herbst beim Bundesamt für Strahlenschutz beantragt. Ob und wann eine Prüfung erfolgt, ist allerdings noch offen. Einer der ersten Kunden könnte der finnische Energieversorger IVO sein. Das Unternehmen ist an der Entwicklung des SWR 1000 beteiligt.
Ebenfalls am Ende einer wichtigen Etappe angelangt ist der Europäische Druckwasserreaktor (EPR), den Siemens zusammen mit dem französischen Reaktorbauer Framatome sowie französischen und deutschen Energieversorgern entwickelt. Der Reaktor ist inzwischen für eine elektrische Leistung von 1700 MW ausgelegt gedacht ist er als Ersatz für Altanlagen in Frankreich und Deutschland sowie für den Export. Ende 1998 wird die erste Designphase abgeschlossen. Die Entscheidung, ob das Projekt dann weiterverfolgt wird, soll bis Mitte 1999 fallen – unabhängig davon, ob dann bereits ein Standort für den Prototyp feststeht.
Der Hochtemperaturreaktor erlebt eine neue Blüte Der weltweit zu erwartende Bedarf an kleinen und sicheren Kernkraftwerken verhilft auch dem Hochtemperaturreaktor (HTR) zu einer neuen Blüte. Allein vier Projekte beschäftigen sich mit dem Bau von Testreaktoren diesen Typs – die angestrebte Leistung variiert zwischen 10 MW und 100 MW. Zum Vergleich: Der deutsche HTR in Hamm-Uentrop hatte eine Leistung von 300 MW. Am weitesten fortgeschritten ist der japanische Reaktor in Oarai, der in Kürze mit dem Testbetrieb beginnt. Daneben arbeiten Teams in China und Südafrika an Reaktoren zur dezentralen Energieversorgung. Eine Forschergruppe aus Frankreich, den USA und Rußland entwickelt HTR, die waffenfähiges Plutonium unschädlich machen können. Neben der Errichtung entdecken die Reaktorbauer die Erhaltung der Anlagen als ein lukratives Geschäftsfeld.
Bereits jetzt sind sie bei Nachrüstungen und beim Austausch der Brennelemente mit von der Partie. Künftig soll der Service weiter ausgebaut werden. „Der Trend geht hin zur Auslagerung der Wartung, das ist unser Geschäft“, weiß Dietrich Kuschel, Leiter Bauprojekte und Nachrüstungen bei Siemens/KWU. Angesichts unsicherer Aussichten im Neuanlagengeschäft entwickelt das Unternehmen das Konzept einer integrierten Instandhaltung für die existierenden Anlagen. Ob Rohrprüfung, Armaturenwartung oder Logistik, der Service aus aufeinander abgestimmten Modulen soll auch die Kosten der Kraftwerksbetreiber senken. Etwa, indem Wartungstermine optimal koordiniert werden.
HOLGER KROKER
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