Leben zwischen zwei Technik-Mythen
50 Jahre BRD. Wie fast immer bei der Aufarbeitung geschichtlicher Abläufe vermengt sich Historie mit Mythen und Vorurteilen. Insbesondere die Geschichte der Kerntechnologie leidet unter dieser gefärbten Betrachtungsweise, meint Prof. Joachim Radkau.
Sucht man das Verhältnis der Nachkriegsdeutschen zur modernen Technik zu rekonstruieren und aus vielen Einzelindizien ein Gesamtbild zu machen, muß man zwischen zwei verbreiteten Mythen hindurchmanövrieren: auf der einen Seite dem Mythos von der vormaligen blinden Technikgläubigkeit, auf der anderen dem Gegenmythos von der deutschen Tradition der Technikfeindschaft. Der eine Mythos ist in der „Öko-Szene“, der andere in Industriekreisen beliebt. Beide gehen an der historischen Realität vorbei.
Beginnen wir mit dem ersten Geschichtsmythos, nämlich der Vorstellung, die Deutschen seien – ähnlich wie andere Völker – bis etwa 1970 im blinden Glauben an die Segnungen des technischen Fortschritts befangen gewesen und erst danach von den Vordenkern der Öko-Bewegung über die Nachteile der Technik aufgeklärt worden. So ist es nicht gewesen. Daß die Industrialisierung ihre düstere Kehrseite hat und die industriellen Emissionen die grüne Natur und die Gesundheit der Menschen bedrohen, war seit dem 19. Jahrhundert für weite Kreise evident. Als sich über den Industriestädten noch der Qualm zahlloser Schlote erhob, wirkte die industrielle Umweltbelastung noch mit einer Massivität auf die Sinne, wie man sich das heute in Deutschland kaum mehr vorstellen kann. Es waren keineswegs nur reaktionäre Romantiker und sensible Ästheten, die das spürten. Allerdings ließ sich ein Großteil dieses Unbehagens lange Zeit nicht organisieren und wirkungsvoll in die Tat umsetzen.
Noch etwas anderes darf man nicht vergessen. Die Beziehung der Nachkriegsdeutschen zur modernen Technik war sehr stark durch den Krieg geprägt. „Jeder, der vom technischen Fortschritt spricht, denkt an den Krieg“, antwortete ein Schlosser noch um 1955 auf eine Umfrage. Die mechanisierten und motorisierten Weltkriege waren für die Beteiligten eine Technik-Erfahrung, die durch Mark und Bein ging. Von damals ab konnte sich niemand mehr einbilden, daß technischer und humaner Fortschritt ganz von selbst identisch seien. Zeitweise erzeugte der Krieg allerdings auch seine spezifischen Hoffnungen auf die Zaubermacht neuer Technik. Noch kurz vor Kriegsende, als die meisten Deutschen der Goebbels-Propaganda nicht mehr viel glaubten, hielt sich der Glaube an die kommenden Wunderwaffen merkwürdig zäh. Aber durch das Kriegsende wurde er zerstört.
Später, in der Zeit des „Wirtschaftswunders“, lag ein technizistischer Wunderglaube nicht mehr in der Atmosphäre der Zeit. Die 50er Jahre waren in den USA die große Zeit der Science Fiction, nicht jedoch in der Bundesrepublik. Die Wirtschaftswunderära ist in der Geschichte der großen technischen Innovationen und Projekte nahezu ein leerer Fleck dafür wurde es in den späten 50er Jahren bei den Kritikern des restaurativen Klimas zur ständigen Manier, das mangelnde Bonner Technikbewußtsein anzuprangern.
Die Rationalisierungskampagnen der 20er Jahre, die vielfach auf große technische Verbundsysteme zielten, fanden in den 50er Jahren nur wenig Nachfolge. Ein erfahrener Rationalisierungsexperte, der die deutschen Unternehmer 1950 mit Neuigkeiten aus den USA bekannt machte, nannte als Musterbeispiel einer nützlichen amerikanischen Rationalisierungsidee eine im Auftrag einer Pralinenfirma erfundene Walnußknackmaschine, die die Nußschale durch eine kleine Gasexplosion von innen aufsprengte, ohne den Nußkern zu beschädigen. Im gleichen Jahr empfahl ein Kraftwerksexperte, in den USA nicht nur auf die Großkraftwerke zu schauen und er erinnerte an die Bauernweisheit „Kleinvieh macht auch Mist.“ Das war eine Parole, die zu der nüchtern-hemdsärmeligen, von Kapitalknappheit bestimmten Ära des Wiederaufbaus paßte.
Ende der 50er Jahre allerdings erstrebten die Berliner Stadtplaner, die das Hansaviertel entwarfen, ausdrücklich „die große Konzeption, die Absage an jedes Klein-Klein“. Über das Ergebnis läßt sich streiten. Der Wolkenkratzer amerikanischer Dimension hat sich in der Bundesrepublik bis heute nur vereinzelt durchgesetzt – das muß man nicht bedauern.
Die Atomeuphorie war in den 50er Jahren nicht Bestandteil einer allgemeinen Technikeuphorie. Es handelte sich bei ihr mehr um eine veröffentlichte als um eine öffentliche Meinung. Teilweise gründete sie sich auf die irrige Annahme, das „friedliche Atom“ mache es möglich, Kraftwerke auf Kistengröße herunterzudimensionieren und die Energiewirtschaft weltweit – und dazu noch spottbillig – zu dezentralisieren. Fachleute wußten es schon damals besser – wenn sie es denn wissen wollten. Der alterfahrene Kraftwerksbauer Fridrich Münzinger bezeichnete die Verheißungen, daß die Atomkraft das Los des kleinen Mannes bald in unerhörter Weise erleichtern würde, unverblümt als „durch Sachkenntnis nicht getrübte Flunkereien“. Und ausgerechnet die Verlautbarungen des RWE, des größten deutschen Stromproduzenten, sind bis in die späten 60er Jahre eine Fundgrube für nukleare Skepsis.
Natürlich hat all das nichts mit Technikfeindschaft zu tun, im Gegenteil: Es handelte sich um die kompetente Skepsis des erfahrenen Ingenieurs und Ökonomen. Es war eine kluge und konstruktive Vorsicht, die den deutschen Wiederaufbau gefördert, nicht gehemmt hat, und die eine Vergeudung des knappen Kapitals in nahezu größenwahnsinnigen Prestigeprojekten verhinderte. Das schließt nicht aus, daß die deutsche Art der Risikominimierung manchmal auch nützliche Innovationen hemmt. Vor pauschalen Werturteilen sollte man sich hüten.
Ein Popanz ist jedoch die von Technomanen immer wieder behauptete deutsche Tradition der Technikfeindschaft, die teils romantischen, teils hysterischen Ursprungs sei. Die seinerzeit einflußreichste Polemik dieser Art war Karl Steinbuchs „Falsch programmiert“ (1968). Da schmäht er wutschäumend die „Hinterwelt“ – gemeint sind die deutschen Geisteswissenschaftler – als „Kathedermörder“, die durch ihre Technikfeindschaft unsere Zivilisation untergrüben. Als ein leuchtendes Vorbild rühmt er die Sowjetunion mit ihrem Technikkult. Wen er konkret attackiert, sagt er nicht. Seit den 70er Jahren ist das Lamento über die Technikfeinde in der nuklearen „Community“ zum Dauerton geworden. Umfragen zeigen jedoch, daß es diese Technikfeinde als relevante Größe gar nicht gibt. In mancher Kritik an der Kernenergie steckte im übrigen mehr technische Kompetenz als in einem Großteil der nuklearen Apologetik.
Die Gegnerschaft der Kerntechnik entsprang in der Regel keiner generellen Technikfeindschaft. Vergleicht man die Öko-Bewegung in ihrer Gesamtheit mit der Naturromantik älteren Stils, wird schlagartig klar, daß das Neue keine Wissenschafts- und Technikfeindschaft ist, sondern im Gegenteil ein intensives Interesse an bestimmten Zweigen von Wissenschaft und Technik. Natur-Normen werden nicht mehr ästhetisch, sondern ökologisch begründet. Man seufzt nicht mehr über die „Dämonie der Technik“, sondern sucht nach technischen Alternativen. Jene Teile der Öko-Bewegung, die sich um Sachkompetenz bemühen, stehen in besseren Traditionen des wissenschaftlich-technischen Denkens als die starrköpfigen Apologeten eines vermeintlichen „one best way“.
JOACHIM RADKAU
Prof. Joachim Radkau: Die Atomeuphorie ging in den 50er Jahren nicht mit Technikeuphorie einher.
Die Diskussion über Atomkraft war und ist häufig von Emotionen geprägt. Wer sich als Atomgegner zu erkennen gibt, landet schnell in der Schublade der Technikfeindschaft, Befürwortern wird mitunter blinde Technikgläubigkeit unterstellt.
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