Atomarer Störfall als Planspiel
Kernschmelze im französischen Atomkraftwerk Cattenom. Doch es war nur eine Übung nahe der deutschen Grenze. Erstmals arbeiteten dabei Franzosen, Deutsche und Luxemburger zusammen. Die Verantwortlichen waren zufrieden, die Bürger blieben skeptisch.
Früh am Morgen um 6.30 Uhr warnte der Simulator im Kernkraftwerk Cattenom vor einem Brand. Der führte zum Ausfall aller elektrischen Leitungen. Während die Mitarbeiter noch löschten, führte ein plötzlicher Druckanfall dazu, dass der Reaktor abgeschaltet wurde. Am Nachmittag funktionierten nur noch zwei Pumpen der Kühlkreisläufe, von denen die eine quietschte. „Wir steuern zweifelsfrei auf das Szenario der Kernschmelze zu“, sagte der Leiter des Kernkraftwerks, Dominique Minière, dem emsigen Krisenstab.
Doch Panik kam kürzlich nicht auf, denn die Katastrophenmeldungen trafen per Fax ein. Für die Pariser Behörde für Nuklearsicherheit (DSIN) war es lediglich eine Übung des Ernstfalles. Neu daran war, dass erstmals auch die Nachbarländer Deutschland und Luxemburg einbezogen wurden – denn Cattenom befindet sich nur 9 km von beiden Grenzen entfernt. Außerdem wurde die Bevölkerung am zweiten Übungstag mit einbezogen – eine Änderung, die die Behörde neuerdings auch bei anderen Katastrophentests in Frankreich anwendet.
Derartige Planspiele wie in Cattenom laufen in Frankreich schon seit Jahren. Das lothringische Kernkraftwerk war bereits 1997 und 1999 getestet worden – allerdings ohne Bevölkerung. Der Ablauf ist stets der gleiche: Am Abend vor der Simulation trifft ein Brief ein, der die Situation beschreibt. Am folgenden Übungstag muss dann der Stab des Kernkraftwerks neben den 1200 Mitarbeitern die Präfektur und Gendarmerie mit einbeziehen.
„Doch in den 14 Jahren seit Bestehen Cattenoms hatte es noch keine übergreifende Übung gegeben“, sagt Minière. Dabei bietet sich das angesichts der Reichweite der vier Blöcke mit je 1300 MW Leistung an: In einem Umkreis von 25 km liegen Teile von Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Luxemburgs samt seiner Hauptstadt.
Neu an der Zusammenarbeit war, dass Mitarbeiter aus den betroffenen Bundesländern sowie Baden-Württemberg und dem Herzogtum direkt in der Präfektur des nahen Metz saßen und ihnen alle Informationen in Echtzeit zugingen. „Das ist ein entscheidender Vorteil“, urteilt der saarländische Beobachter Günther Sticher.
Meldungen gingen an Großstädte in der Region
Sticher und seine Kollegen konnten die Meldungen direkt nach Saarbrücken, Trier und Luxemburg weiter durchgeben. Der staatliche Stromversorger Electricité de France (EdF) hatte die Software zur Verfügung gestellt. Neu war auch, dass Messtrupps aus dem Saarland und Rheinland-Pfalz an der Übung teilnahmen und Werte weitergaben. Auch drei japanische Beobachter nahmen an der Simulation teil.
All das stand für die Kraftwerks-Mitarbeiter im Hintergrund, als Lämpchen und Warntöne die simulierte Gefahr signalisierten. Im schlimmsten Fall könne es zwar zu einem Gau kommen. „Aber Tschernobyl ist dank der Sicherheitsvorkehrungen hier nicht möglich“, beruhigt Minière. „Radioaktivität könnte erst bei einer Kernschmelze austreten, bei der der Druck im Reaktor so groß wird, dass wir über ein Sicherheitsventil radioaktiven Dampf ablassen müssen.“ Auch dann würde der Dampf noch durch einen Sandfilter geführt, der 90 % der Radioaktivität abfange.
Am Nachmittag des ersten Tages waren alle zufrieden. Die sofort informierte Präfektur hatte Jodpillen bereitgestellt und einen Kommandostand eingerichtet. Jetzt galt es noch, die Bevölkerung am zweiten Tag ruhig in ihren Häusern zu halten, weil ein Austritt von Radioaktivität simuliert werden sollte. Als die Sirenen in Cattenom aufheulten, blieb den Feuerwehrleuten samt Lautsprecherwagen wenig zu tun. Schon seit einer Woche waren die Bewohner auf die Übung vorbereitet worden. So hatten Kneipe, Bibliothek und Bäcker geschlossen. Die Bürger mussten sich in ihre Häuser zurückziehen und von Fenstern fern halten.
In der Stadtsparkasse hört Leiter Lucien Christ die Feuerwehr: „Das ist eine Übung, das ist eine Übung!“ Er kommentiert: „Das ist doch ein Spiel, das im Ernstfall nichts nützt.“ Sein Mitarbeiter Jean-Marie Souzmann hat dagegen keine Angst. Er hofft, dass „es im Ernstfall einen Plan gibt, schließlich ist hier nicht die Sowjetunion“.
Das Fazit der Bürger ist gespalten viele fühlen sich verunsichert, auf der anderen Seite verdanken sie dem Kernkraftwerk den Reichtum ihrer Stadt. Von den 55 Mio. DM Gewerbesteuer landen 2,5 Mio. DM in der Gemeindekasse, 8 Mio. DM beim Stadtverband und der Rest in der Region. Wohn- und Gewerbesteuern sind niedrig, Schulmittel frei. Die Übung hat vielen mehr Unwohlsein beschert als genommen.
Bei den Teilnehmern dagegen herrscht Einigkeit über die Übung. Die Luxemburger waren sehr zufrieden. Und der saarländische Umweltminister Stefan Mörsdorf zog ebenfalls ein positives Resümee: „Ich bin froh, dass unsere französischen Nachbarn den Mut hatten, diese Übung erstmals grenzüberschreitend durchzuführen. Darin ist eine neue Qualität der Zusammenarbeit zu sehen.“ CORDELIA CHATON
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