An Kopf und Fuß angenehme Turbulenzen
VDI nachrichten, Düsseldorf, 17. 3. 06, rok – Heißer Kopf, kalte Füße. Der Dummy in der Flugzeugkabine schwitzt und friert gleichzeitig. Aus den Belüftungsdüsen strömt viel zu warme Luft direkt in sein Gesicht. Dafür herrscht an seinen Füßen Eiszeit, deshalb auch die warmen Socken. „Die Klimatisierung von Innenräumen ist eine Kunst für sich“, sagt Dr. Christoph van Treeck von der TU München.
Woran liegt es, dass wir bei wohligen 23o C Raumtemperatur frieren? Oder bei 17o C und Nichtstun ins Schwitzen kommen, beispielsweise dann, wenn wir im Auto sitzen, die Klimaanlage eiskalte Luft auf die Brust bläst, durch das geschlossene Schiebedach jedoch die Sonne auf den Kopf brennt.
Der Dummy, eine neuartige KlimaMesspuppe namens Dressman, vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) in Holzkirchen ist Teil des Forschungsprojektes ComfSim, an dem auch die TU München, das Ingenieurbüro Müller-BBM, das Leibniz-Rechenzentrum und Siemens Corporate Technology beteiligt sind. „Ziel des Projektes ist, ein neuartiges Klimakomfortmodell für Innenräume zu entwickeln, mit dem sich verschiedenste Szenarien in Echtzeit, interaktiv und in 3-D simulieren lassen“, erläutert van Treeck, Projektleiter am Lehrstuhl für Bauinformatik der TU München.
Jeder der Projektpartner trägt seinen Teil dazu bei. So analysiert das IBP in Gebäuden, Fahrzeugen oder im eigenen Fluglabor, in dem sich ein originales Flugzeugsegment befindet, inwiefern sich Luftströmung, Temperatur, Bekleidung und Luftfeuchte auf das Behaglichkeitsempfinden auswirken. Dazu sind an der Klima-Messpuppe Sensoren angebracht, die verschiedenste Parameter messen und damit die menschliche Haut unter Vorgabe eines konstanten Wärmestroms simulieren. „Herkömmliche Modelle zur Verbesserung der Lüftungs- und Anlagentechnik in Innenräumen beziehen sich lediglich auf den Körper als Ganzes und lassen lokale Unterschiede wie „Kopf ist heiß, Füße sind kalt“ außer Acht. Dank der Arbeiten des IBP können wir nun erstmals auch die lokale Behaglichkeit einzelner Körperteile berechnen“, so van Treeck. „Am Lehrstuhl für Bauinformatik programmieren meine Kollegen und ich auf Basis der am IBP entwickelten Modelle spezielle Algorithmen, die wir in unser numerisches Simulationsmodell einbinden. Das Ingenieurbüro Müller-BBM hingegen hat eine Menge praktischer Erfahrung im Bereich der thermischen Gebäudesimulation und gibt uns realistische Randbedingungen vor, etwa, wie sich die Oberflächentemperaturen von Bauteilen in Räumen im Laufe des Tages ändert.“ Finanziell gefördert wird ComfSim von der bayerischen Forschungsstiftung.
Ab Mitte 2006 wird der neue Höchstleistungsrechner am Leibniz-Rechenzentrum die riesigen Datenmengen der ComfSim-Simulationen bewältigen. Die Leistung des neuen Rechners ist beeindruckend: Im Endausbau im Jahr 2007 wird der Rechner mit 69 Teraflops pro Sekunde arbeiten. Mit diesem System wird es weltweit erstmals möglich sein, komplexe Behaglichkeitsstudien in Echtzeit durchzuführen und das Simulationsszenario interaktiv zu verändern. Ein Riesenvorteil insbesondere für die Bau-, Automobil-, Schienenfahrzeug- und Flugzeugindustrie. „Dank ComfSim können Ingenieure und Architekten dann bereits während der Konstruktion von Produkten oder ganzen Systemen auf die Ergebnisse der Simulation zurückgreifen, was die Zuverlässigkeit der Entwürfe wesentlich erhöht. Schließlich lassen sich damit Planungsfehler sofort erkennen und vermeiden“, erläutet Barbara Neuhierl, projektverantwortlich für ComfSim bei Siemens Corporate Technology.
Ob Heizung, Klimaanlage oder Lüftung, die Anwendungen von Strömungssimulationen in der Industrie sind an sich ein alter Hut. „Natürlich werden viele Konstruktionen heutzutage mittels Simulation abgesichert“, sagt Neuhierl. „Bislang war es aber nicht möglich, am Bildschirm Dinge im Raum, beispielsweise einen Schreibtisch im Büro, zu verschieben und auf Knopfdruck zu sehen, wie sich die Strömungsverhältnisse ändern und dabei gleichzeitig eine Bewertung der Ergebnisse vorzunehmen. Eine Simulation in Echtzeit und zudem interaktiv wie bei ComfSim ist weltweit einmalig.“
Ist das wirklich so besonders? „Aber ja“, so Neuhierl. „Wo ComfSim Simulationen auf Knopfdruck liefert, benötigen herkömmliche Verfahren Tage oder gar Wochen. Wesentlich schneller zu sein und die Entwicklungszyklen zu reduzieren bedeutet, effizienter zu fertigen, mehr Geld zu verdienen.“ „Bei Ausschreibungen im Schiffbau beispielsweise, bei denen es unter anderem darum geht, den Maschinenraum eines Fährschiffes zu entwerfen, bekommt der Konstrukteur gerade mal sieben Tage Zeit“, berichtet van Treeck. „Mit ComfSim geben wir dem Konstrukteur ein Werkzeug in die Hand, mit dem er sofort überprüfen kann, ob etwa die vorgesehene Kühlung des Maschinenraums richtig ausgelegt ist.
Ein weiteres Ziel des Forschungsprojektes ist, das neue Simulationsmodell in die Virtual Reality (VR)-Umgebung des MediaOffice von Siemens zu implementieren. „In unserem MediaOffice können wir ganz und gar in die virtuelle Realität eintauchen“, sagt Neuhierl. „Schon in drei Jahren können wir beispielsweise die Innenräume eines neuen Schnellzuges entwerfen. Oder wir sehen uns an, welche Auswirkungen bauliche Veränderungen an einem Glaspalast auf die Luftströmung in den Räumen und den Brandschutz haben. Wo entstehen Turbulenzen, wo steht die Luft, wie verändert ein geöffnetes Fenster die Luftströmung, an welchen Stellen verliert das Gebäude Energie? All diese Fragen wird uns das Modell sofort beantworten.“ Damit nicht genug. Bis 2008 wollen die Mitarbeiter der ComfSim-Projektgruppe es schaffen, eine offene Plattform zu entwickeln, auf die sich Kollegen aus aller Welt zuschalten können.
„Bei Siemens arbeiten wir dezentral rund um den Globus. Künftig können sich drei Mitarbeiter – einer in China, einer in den USA und einer in Deutschland – im VR-Raum treffen und ganze Kraftwerksanlagen konstruieren oder neue Produkte designen“, sagt Bernd Friedrich, Kompetenzfeldleiter Digital Product bei Siemens Corporate Technology. „Wir nähern uns der physikalischen Realität immer mehr an. In dem in ComfSim zu entwickelnden Simulationsmodell werden nicht nur Parameter wie Temperatur, Luftfeuchte, Luftströmung und Turbulenzen berücksichtigt, sondern auch Strahlungsaspekte, also wie stark heizt etwa die Sonne die Oberfläche meines am Fenster stehenden Schreibtisches auf.“ Ob dann in allen Büroräumen das optimale Klima herrschen wird? „Was die Klima- und Belüftungstechnik angeht, auf jeden Fall“, sagt Friedrich und schmunzelt. ULRIKE ZECHBAUER
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