… auf dem Weg zu risikolosen Blutbeuteln
Am 1. Juni tritt die neue EU-Chemikalienverordnung REACH in Kraft. Das Herzstück: gefährliche Stoffe durch ungefährliche zu ersetzen. Das klingt zwar einfach, ist jedoch oft schwierig umzusetzen und braucht Zeit. Dass es sich dennoch lohnen kann, zeigt ein Beispiel: Ein neuer Stoff kann giftige Weichmacher in PVC – seit Jahren in Verruf – ersetzen. In Spielzeugen, Kathetern und vielleicht demnächst auch in Blutbeuteln.
Hektisch ging es in letzten Wochen bei der BASF AG in Ludwigshafen zu. Es wurde geschraubt, gestrichen und geschrubbt. Jetzt steht Albert Heuser, Leiter des Bereichs Petrochemikalien, stolz vor der neuen Produktionsanlage: Sie besteht aus zwei 24 m hohen Hochdruckkammern, eingelassen in einem Turm aus Beton. Um den Betonturm herum wimmelt es von Leitungen.
Am Mittwoch dieser Woche, am 16. Mai, war es soweit. Da schaltete Heuser die Anlage ein. Nach einer kurzen Erwärmungsphase begann die Produktion – ein Grund zu feiern: Jetzt kann die Chemiefabrik jährlich bis zu 100 000 t „Hexamoll DINCH“ herstellen – und damit viermal mehr als bisher. Die Anlagenerweiterung sei nötig gewesen, erklärt Heuser. Die Nachfrage nach Hexamoll DINCH – genauer: 1,2-Cyclohexan-Dicarbonsäurediisonylester – steigt weltweit: „Wir liefern mehr als die Hälfte unseres Absatzes nach Asien.“
Schließlich geht es um die Gesundheit unserer Kleinen. Schreiend streiten sich Tochter und Sohn darum, wer am Beißring lutschen darf. Einer gewinnt – und strahlt übers ganze Gesicht. Er hat aber nicht nur Vorteile! Denn solche Babyartikel bestehen oft aus PVC und durften bis vor kurzem das Phthalat DEHP enthalten.
Dieser Weichmacher ist giftig (siehe Kasten) – und beim Lutschen am Beißring löst sich auch ein wenig Weichmacher aus der Kunststoffmatrix heraus. Die EU hat inzwischen reagiert und verboten, DEHP im Spielzeug für Babys und Kleinkinder einzusetzen. Chinesische Fabriken, die hier PVC-Spielzeug verkaufen wollen, müssen einen anderen Weichmacher nutzen – etwa Hexamoll DINCH.
Der beginnende Vermarktungserfolg des neuen Weichmachers hat eine lange Vorgeschichte. „Die Diskussion um die Risiken der Weichmacher beherrscht seit 1978 die Fachwelt“, weiß Georg Kühlein.
Der heute 61-jährige Chemieingenieur der Firma Raumedic AG im fränkischen Münchberg ist die Ruhe selbst. Er sitzt auf seinem Bürostuhl, blickt auf die grünen Wiesen und Wälder des Fichtelgebirges und spricht langsam mit deutlicher Stimme. „In den letzten 20 Jahren meines Berufslebens frage ich mich, welche Ersatzstoffe in Frage kämen.“ Denn es ist ein Ziel von Raumedic, keine gefährlichen Substanzen in Produkte – u. a. Kunststoffe für Katheter und Blutbeutel – einzusetzen. „Wir halten daher ständig ein Auge auf dem Markt, um zu sehen, gibt es etwas Neues, kann man das DEHP – manche würden sagen ¿endlich¿ – ablösen.“ Lange Zeit schaute Kühlein vergeblich.
Die Wende begann 1997. Umweltverbände protestierten dagegen, dass DEHP in Beißringen und Quietscheentchen eingesetzt wird. Die BASF gründete im selben Jahr ihr Forschungsprojekt „Nachhaltige Weichmacher“.
„Unsere Kunden suchten eine sichere Alternative zu DEHP, die aber genauso breit wie die herkömmlichen Weichmacher einsetzbar ist“, beschreibt Boris Breitscheidel die Situation. Er war für die BASF der richtige Mann zur rechten Zeit. 1999 wechselte der 34-jährige Chemiker in die Weichmacherabteilung – und brachte ein neu entwickeltes Verfahren mit. Er wusste, wie sich der Benzolring, ein Grundbaustein vieler organischer Moleküle, gezielt verändert lässt. Die Hypothese: „Wenn wir den Benzolring der Phthalate verändern, haben wir von der toxikologischen Seite keine Probleme mehr.“
Breitscheidel hatte Glück. Er und sein Team brauchten das neue Hydrierverfahren nur an einem Dutzend Phthalaten auszuprobieren und hielten ein weißes Pulver in ihren Händen: Hexamoll DINCH.
Die Synthese einer neuen Chemikalie ist aber nur der erste Schritt. Damit die neue Substanz eine andere vom Markt verdrängen kann, muss sie sicher sein und sich in der Praxis bewähren. Der BASF-Vorstand ließ sich von den Marktchancen eines ungefährlichen Weichmachers überzeugen, schließlich geht es um einen Milliardenmarkt, und investierte fast 5 Mio. €.
Damit testete die Firma etwa, ob die neue Substanz Allergien oder Krebs auslösen, die Fruchtbarkeit oder die Umwelt schädigen kann. Das Ergebnis freute Boris Breitscheidel: „Das Molekül hat eine toxikologisch und ökotoxikologisch blütenweiße Weste.“
Parallel prüfte das Weichmacher-Team die Praxistauglichkeit. Es verrührte Hexamoll DINCH mit PVC, verarbeitete die Mischung zu Folien und untersuchte deren Eigenschaften. Ein Beispiel: Bleibt die Folie auch in einer Tiefkühltruhe elastisch? Auch diese Tests bestand der neue Weichmacher.
Damit nicht genug! Lässt sich das neue Weich-PVC auch zu Infusionsschläuchen verarbeiten? Und kann eine Firma, die solche Schläuche in Infusionsbestecken oder Ernährungssystemen einsetzt, das neue Weich-PVC problemlos an ihren Konfektionsapparaten verarbeiten? An diesen Fragen wurde in vielen Firmen intensiv getüftelt. Der Aufwand hat sich gelohnt. Die richtigen Mischungen für Blutschlauchsysteme oder Dialysesets wurden gefunden und werden vermarktet.
In der Kinderklinik des St. Marienhospitals in Bonn schreien Kinder. Eltern stehen nervös daneben. Krankenschwestern flitzen hin und her. Doch Kinderarzt Stephan Buderus steht ruhig am Bett eines achtjährigen Jungen, der seit langer Zeit über Plastikschläuche künstlich ernährt wird.
Diese Schläuche bestehen aus PVC, enthalten aber seit etwa einem Jahr keine giftigen Weichmacher mehr, erklärt Buderus. „Gerade wir Kinder- und Jugendärzte wollen natürlich, dass die Kinder im Idealfall nicht mit toxischen Substanzen belastet werden.“ Buderus freute sich daher sehr, als eine Firma bekannt gab, auf Hexamoll DINCH umzustellen. „Wir haben diese Produkte bestellt und eingesetzt. Sie lassen sich problemlos anwenden.“ In dieser Klinik bekommen Kinder keine gefährlichen Weichmacher mehr verabreicht.
Fast keine! Denn noch fehlen PVC-Blutbeutel ohne den Weichmacher DEHP. „Unseres Wissens gibt es bisher kein anderes Aufbewahrungsbehältnis, das eine so lange Überlebensdauer der roten Blutkörperchen garantiert wie PVC mit DEHP“, erklärt Josef Zündorf vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Das möchte Raumedic ändern. Eine Herausforderung, wie Georg Kühlein weiß. „Um Vollblut oder Erythrozyten mehrere Wochen kühl lagern zu können, muss ein Blutbeutel sozusagen ¿atmen¿ können.“ Kühlein steht im Forschungslabor vor einem Permeator – einem Gerät, mit dem gemessen wird, wie viel Sauerstoff, Kohlendioxid oder Wasserdampf eine Folie durchlässt. Der Permeator brummt leise vor sich hin. Kühlein schaltet die Pumpe ein, die ein leichtes Vakuum erzeugt. Auf dem Bildschirm lässt sich beobachten, dass die Folie geringe Mengen Gas durchlässt.
Kühlein ist zufrieden. Der eigentliche Praxistest steht noch aus: Wie lange lassen sich rote Blutkörperchen wirklich in der neuen PVC-Weichmachermischung halten? Eine Antwort darauf hofft der Chemieingenieur bald zu erhalten. Er bereitet zurzeit gemeinsam mit einer Blutbank den letzten Praxistest vor. Gelingt er, können bald schon Menschenleben ohne den fortpflanzungsschädigenden Weichmacher DEHP gerettet werden. R. AHRENS
Ein Beitrag von: