Bau 17.05.2002, 17:34 Uhr

Wehr schützt Venedig

Die „Perle der Adria“ kann auf Dauer nur durch bautechnische Vorkehrungen und flankierende Umweltschutzmaßnahmen vor dem Untergang bewahrt werden. Diese von Politikern und Wissenschaftlern getragene Einsicht wird zur Umsetzung eines in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten Flutwehrmodells führen.

Die Würfel sind gefallen: Nach zwei Jahrzehnten politischer Auseinandersetzungen und technischer Vorbereitungen hat die italienische Regierung die Realisierung des seinerzeit als „Modulo Esperimentale Elettromeccanico“ (Mose) bekannt gewordenen Flutwehrsystems beschlossen. Allerdings wird die alte Dogenstadt bis 2016 warten müssen, um sich vor den zunehmenden Angriffen der Salzwasserfluten sicher wägen zu können. Acht Jahre Bauzeit und eine Baukostensumme 2,6??Mrd?) wird allein die Ausführung des Projekts in Anspruch nehmen. Weitere sechs Jahre dürften für die technischen Vorbereitungen – einschließlich der ausstehenden Projektstudien – benötigt werden.
Geleitet und überwacht wird das inzwischen auch von Umweltschützern befürwortete Großvorhaben durch einen gemischten Sonderausschuss (Comitatone), an dem eine Vielzahl staatlicher Körperschaften und Institutionen beteiligt sind. Für die Durchführung sämtlicher Arbeiten wird das aus zahlreichen Inlandsfirmen gebildete „Consorzio Venezia Nuova“ zuständig sein. Ob dessen Rolle als Alleinbeauftragter rechtlich zulässig ist, wird derzeit von den Wettbewerbshütern in Brüssel geprüft.
Die Funktionsweise des beweglichen Schutzwalls ist ebenso genial wie einfach. An den durch Molen befestigten Laguneneinfahrten (Chioggia, Lido, Malamocco) werden 20 m breite und bis 30 m hohe Stahltanks (an den seichteren Einfahrten reichen 20?m) über deren Sockel auf dem Meeresboden verankert. Ihre Hohlräume sind in der Ruhestellung mit Wasser gefüllt, was eine vollständige und unsichtbare Anpassung an den Lagunengrund bedeutet. Im Bedarfsfall (wenn die Flut 1 m über NN erreicht hat) wird über ein fest installiertes Schlauchsystem komprimierte Luft hineingeblasen. Dank der Aufhängung an Stahlscharnieren richtet sich der bewegliche Behälterteil unter gleichzeitigem Ausstoß des flüssigen Inhalts in die gewünschte Schräglage, um im 45-Grad-Winkel aus dem Wasser zu ragen. Insgesamt 79 solch dicht aneinander gereihte, üblicherweise jeweils 250 t schwere Kolosse (die mit 350 t schwergewichtigste Variante kommt auf der tieferen Einfahrt von Malamocco zum Einsatz) werden gebraucht , um die Lagune vollständig abzuriegeln. Dies soll selbst bei einem zeitweiligen Versagen der Anlage oder ungewöhnlich hohem Wellengang ausreichend lange der Fall sein, da der maximal erwartete Höhenunterschied von 2?m in Verbindung mit dem Staudruck des Lagunenwassers für eine ausreichende Wellenzerkleinerung sorgt. Bei Entwarnung hingegen werden die 5?m dicken Tanks geflutet und kehren somit wieder in ihre Ausgangsposition zurück.
Hochdruckschläuche und Düsen sorgen für eine regelmäßige Entfernung der Sand- und Rückstandsablagerungen, die über eine Saugvorrichtung weggepumpt werden. Das dazu konstruierte und durch seine vier Riesentürme auffällige Testmodul „Mose“ ist jahrelang unter Echtheitsbedingungen im Canale dei Trasporti getestet worden. Dass die bei Hochwasser aus dem Wasser ragenden Kunstgebilde als keine signifikante Landschaftsbeeinträchtigung oder Behinderung für die Schifffahrt zu werten sind, bestätigt der Minister für Infrastruktur und Transport, Pietro Lunardi: „Die Schließung der Lagune wird einschließlich der Tankbewegungen und dazugehörigen Füllvorgange im Durchschnitt 4,5 Stunden am Tag beanspruchen.“
In Bewegung gesetzt wird der bewegliche Schutzwall bei Tidenständen von mehr als 1?m über NN. Dies ist inzwischen durchschnittlich sieben Mal im Jahr der Fall. Bedingt durch seinen
nachaltigen Nivellierungseffekt (die Hochwasserstände werden um durchschittlich 4 cm sinken) wird damit gerechnet, dass nicht mehr als drei bis vier Schließvorgänge im Jahr erforderlich sind. Dass die Absperrung nicht zu lange dauert, ist vor allem wichtig für die Lagunenflora und -fauna, wissen Umweltschützer, da diese auf eine permanente Salz- und Süßwasservermischung angewiesen sei. Ihre Austauschdynamik werde mit Hilfe von Luft- und Satellitenaufnahmen überwacht, versichert Lunardi. In das 570?km2 große Gebiet münden vier Flüsse, die mit ihrer industriellen und landwirtschaftlichen Immissionsfracht für ständige Gleichgewichtsverschiebungen sorgen. Gleichzeitig gilt es das Fortschreiten der Erosion an den zahlreich in der Lagune vorhandenen Inseln und Kanäle per Luft- und Satellitenaufnahmen zu beobachten.
Das 1998 von einer unabhängigen, internationalen Expertenteam begutachtete Flutwehrsystem macht keinerlei Eingriffe in die architektonische Struktur von Venedig erforderlich. Es werde zudem – so die Gutachter – der Nachbarstadt Chioggia zugute kommen. Bedeutend sei auch der Beschäftigungseffekt für die regionale Wirtschaft, so dass man hier mit zusätzlich 1000 direkten und 4000 indirekten Arbeitsplätze pro Projektjahr rechnen könne.
Dass Venedig, die „Perle der Adria“, massiver Rettungsmaßnahmen bedarf, wird jedes Jahr erneut und mit zunehmender Dringlichkeit vor den Augen der Weltöffentlichkeit sichtbar. Bereits 130 cm über dem Normalstand reichen aus, um zwei Drittel des historischen Stadtkerns zu überschwemmen. Ab 190?cm (wie bei der Hochwasserkatastrophe von 1966 der Fall) ist die gesamte Innenstadt noch nicht mal mehr mit Gummistiefeln und Laufstegen, sondern nur noch per Boot erreichbar. Im Verlauf des vergangenen Jahres war der 80-cm-Pegel allein 82 Mal überschritten worden, und im November mussten die Venezianer sogar ein Hochwasser von 125 cm über NN hinnehmen. Die Häufigkeit von Überschwemmungen hat sich in den 90er Jahren gegenüber dem Zeitraum 1930 bis 1949 mehr als verfünffacht. Der Markusplatz wird inzwischen 50 Mal im Jahr überflutet.
Hervorgerufen wird das Phänomen vor allem durch das allmähliche Absinken des Festlandes (Subsidenz) unter gleichzeitigem Anstieg des Meerespiegels (Eustatismus). Weiterhin begünstigt wird es – so Ergebnisse einiger von Umweltschützern in Auftrag gegebenen Studien – durch den „klimatisch bedingten Treibhauseffekt“. Auf jeden Fall rechnen Fachleute damit, dass sich der Wasserspiegel der Adria in den kommenden 100 Jahren um 22?cm erhöhen wird. „Ohne technische Eingriffe würde dies für Venedig den Todesstoß bedeuten,“ warnt Lunardi, nachdem die „Serenissima“ im vergangenen Jahrhundert bereits über 20?cm an Höhenlage eingebüßt hätte. Daran würden auch die ebenfalls im Masterplan von 1992 vorgesehenen und inzwischen weitgehend abgeschlossenen Arbeiten zur Anlage zusätzlicher Molen und Befestigung der Küstenstreifen nichts ändern.
„Doch selbst das aufwendige System aus beweglichen Flutwehren wird der das ganze Jahr über gut besuchten Touristenattraktion keine ausreichende Überlebensgarantie bieten können,“ fürchtet Bürgermeister Paolo Costa. Sein Credo: „Die Stadt braucht ein breit angelegtes Programm an Komplementärmaßnahmen, die dem labilen Öko-Gleichgewicht der Lagune Rechnung tragen.“ Deshalb sollen die Arbeiten zur Ausbaggerung der die Strömung begünstigenden Lagunenkanäle, zur Anhebung der Fundamente und zur Höherlegung der Fußwege fortgesetzt werden. Außerdem wird der Tankerverkehr auf eine 10 km vor der Küste angelegten Kunstinsel verbannt. Für diese Vorkehrung und die damit verbundene Errichtung einer Pipeline zu den Raffinerieanlagen von Marghera ist eine zusätzliche Ausgabensumme von 300 Mio. bis 350 Mio. erforderlich. Eine lohnende Investition, so der Bürgermeister, wenn man bedenke, welch immense Schäden leckgeschlagene Tankschiffe auslösen können. HARALD JUNG

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