Verhängnisvolle Kunst am Bau
VDI nachrichten, Berlin, 26. 1. 07, sta – Den 18. Januar wird die Deutsche Bahn so schnell nicht vergessen. Orkan „Kyrill“ hat den gesamten Fahrbetrieb lahmgelegt. Aber nicht nur das. Auch der Berliner Hauptbahnhof wurde arg in Mitleidenschaft gezogen. Die Schuldfrage ist noch offen.
Viele Fahrgäste sind stinksauer, als sie an diesem Donnerstagabend den Hauptbahnhof verlassen müssen. Erst können sie nicht weiterfahren – dann müssen sie auch noch raus in die Kälte. Doch der Unmut ist schnell verflogen, als klar wird, dass die Evakuierung ihnen vielleicht das Leben gerettet hat. Kurz zuvor hat sich ein 8 m langer Stahlriegel aus der Fassade des Neubaus gelöst. Er stürzt 40 m tief in den Eingangsbereich des Prestigebaus. Die massive Betontreppe, die den Fall des 1,35 t schweren Kolosses stoppt, wirkt danach an einigen Stellen wie zerbröselter Zwieback. Jedem Betrachter ist klar: Kein Helm der Welt hätte hier geholfen.
Zwei weitere Stahlriegel drohen ebenfalls zu Boden zu gehen. Sie verfangen sich aber glücklicherweise in der Fassadenkonstruktion. Kein Mensch wird verletzt. Schuld an der Beinahe-Katastrophe ist Orkan „Kyrill“. Er hat das Gebäude mit scharfen Aufwinden attackiert.
Die Kraft des Sturms war gewaltig. Selbst im Flachland wurden Windgeschwindigkeiten von über 100 km/h gemessen. Umweltschützer halten dies für eine Folge der globalen Erwärmung.
Richtig heiß her geht es derweil bei den am Bahnhofsneubau Beteiligten. „Zusätzlich zu dem materiellen Schaden haben wir einen großen Imageschaden erlitten,“ wettert Wolf-Dieter Siebert, Vorstandsvorsitzender der DB Station & Service AG. Man werde die Verantwortlichen rechtlich und finanziell zur Verantwortung ziehen. Das aber ist leichter gesagt als getan. Als Vertreter der Bauherrschaft räumt Siebert ein, dass von Planungsbeginn bis Bauabnahme niemand hinsichtlich der Sicherheit im Fassadenbereich Bedenken geäußert hatte. So hatte beispielsweise die Baubehörde des Bezirks Berlin-Mitte im Genehmigungsverfahren grünes Licht gegeben.
Tatsache aber ist, dass die Stahlriegel mit einem Querschnitt von 60 cm x 60 cm ohne jede Befestigung lediglich in die Außenwandkonstruktion des Stahlverbundbaus „eingelegt“ wurden. Sie ruhen auf Winkeleisen, die man an den Stützen befestigt hat. Um eine Horizontalverschiebung der Riegel zu vermeiden, wurden die Stützen zusätzlich mit Lisenen ausgestattet, um so eine Art Schienenkonstruktion zu schaffen (siehe Bild im Artikel unten). Für alles andere sollte das Eigengewicht der Stahlriegel sorgen. Da das aber offensichtlich nicht geklappt hat, wurden in den vergangenen Tagen auch oberhalb der Riegel Winkeleisen angeschweißt. Jetzt ist jede Bewegung nach oben unmöglich.
Statischen Zwecken dienen die Fassadenriegel mit einer Wanddicke von 8 mm nicht. Architekt Meinhard von Gerkan hat sie lediglich zum Zwecke der Abrundung des ästhetischen Gesamtbildes einfügen lassen. „Die Konstruktion des Bahnhofneubaus war nie in Gefahr,“ beruhigt sein Hamburger Büro dann auch in einer offiziellen Stellungnahme nach dem Unfall.
Wer die Verantwortung für den dramatischen Zwischenfall zu tragen hat, ist weiterhin unklar. Wie bei den meisten Ereignissen dieser Art, dürfte es vielleicht bald heißen: Es war ein unglückliches Zusammentreffen mehrerer unvorhersehbarer Umstände. Möglicherweise hat man die Verformbarkeit der Fassadenkonstruktion unterschätzt, so dass die Riegel aus der Lisenen-Konstruktion springen konnten. Doch für Wolf-Dieter Siebert als Vertreter der Bauherrschaft sind vorschnelle Schuldzuweisungen jetzt nicht hilfreich. Er mahnt: „Zuerst müssen die Ergebnisse des Beweissicherungsverfahrens abgewartet werden.“
Auf der Suche nach Erklärungen erinnern sich einige Experten auch an den Termindruck, unter dem das Bahnhofsprojekt während seiner Bauphase stand. Doch Rechtsanwalt Andreas Schriewer beschwichtigt: „Sicherheitstechnische Belange genießen bei der Bauausführung eine deutlich höhere Priorität als terminliche Belange.“ Schriewer ist Justitiar bei der Firma Donges. Die Darmstädter hatten die Bügelbauten am Hauptbahnhof errichtet.
Selbsternannte Experten und einige Zeitungen unken derweil, dass auch „Kunst am Bau“ wetterfest sein sollte. Die Deutsche Bahn, die wegen Änderung des Gewölbedeckenentwurfs im Untergeschoss des Bahnhofs arg gescholten worden war, hätte etwa laut FAZ sinnvoller Weise „noch mehr in die Ästhetik des Entwurfs eingreifen sollen“. ELMAR WALLERANG
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